Zeit der Eisblueten
seine eigenen Probleme fixiert. Keines davon war auch nur entfernt so grauenvoll wie die von Ian. Keines davon war lebensbedrohend. Ian hatte ihn um etwas mehr Zeit gebeten, immer wieder um ein wenig mehr Zeit, bevor das Unvermeidliche eintrat.
Thorn verlangsamte seinen Lauf auf Schrittgeschwindigkeit. Er würde nicht mehr lange durchhalten. Dafydd rannte an ihm vorbei und drehte sich nicht mehr nach ihm um. Er konnte sich nicht auch noch um den Hund kümmern.
»Ian!«, rief er, so laut er konnte. Danach atmete er heftig ein, was einen Würgereiz hervorrief. Die eisige Luft ließ seine Lungen fast gefrieren. Schreien durfte er nicht. Er musste einfach dafür sorgen, dass er die Spur nicht verlor.
Dafydd begann, um seine eigene Sicherheit zu fürchten. Auch wenn er imstande sein sollte, ein Feuer zu machen – und selbst das konnte sich als schwierig erweisen –, musste er noch den Weg zurück finden. Er blieb kurz stehen und blickte sich um. Seine Fußspuren auf dem harten, festen Schnee waren nur schwach zu erkennen. Falls sich Ian entschieden hatte, die Route irgendwo zu verlassen, würde er ihm auf keinen Fall folgen können – nicht zu Fuß. Er verfluchte sich, weil er die Schneeschuhe, die an der Hüttenwand hingen, nicht mitgenommen hatte. Hysterie führt zu einer jämmerlichen Planung.
Zum Glück war dies genau die Strecke, die er ein paar Wochen vorher auf den Skiern zurückgelegt hatte. Er schaute sich weiterhin um und leuchtete mit der Taschenlampe in die Dunkelheit zwischen den Bäumen, um herauszufinden, wie weit er vorgedrungen war. Außer ein paar Lichtungen und Unebenheiten gab es kaum Orientierungspunkte. Er überquerte die gerodete Schneise, an die er sich erinnerte, ein langes, offenes Band abgeholzten Bodens. Dahinter lag unberührte Wildnis. Die Fallen waren in einem Umkreis von fünfzig, sechzig Kilometern aufgestellt. Wenn er noch viel weiter ging, würde er sein eigenes Leben aufs Spiel setzen. Seine Bekleidung reichte für die widrigsten Bedingungen aus, aber selbst die dicksten Kleiderschichten erlaubten es nicht, erschöpft eine Rast einzulegen oder gar zu schlafen. Es würde ein langer Schlaf werden. Die Kälte kroch bereits jetzt in seine Hände und Füße.
In der Ferne konnte er Wölfe heulen hören. Er lief weiter, aber dann stellte er fest, dass er sich genau in die Richtung des gespenstischen Geräuschs bewegte. Sein Alptraum wurde wahr. Er hatte diesen Traum schon viele Male geträumt, in letzter Zeit häufiger. Sein in einem Tellereisen steckendes Bein, das rote Blut im weißen Schnee – und die heulenden Wölfe. Hatte er dies vorausgeahnt, oder war es sein Sohn, den er gesehen hatte … an der Schwelle des Todes, gefangen von einem Eisbären in der Hocharktis?
Er verlangsamte seine Schritte; Müdigkeit setzte ein. Plötzlich kam ihm sein Entschluss, allein loszuziehen, tollkühn vor. Er hätte Alarm schlagen und einen Suchtrupp organisieren sollen. Aber Ian würde solch eine Verzögerung niemals überleben.
»Ian!«, schrie Dafydd verzweifelt und bedeckte beim Einatmen den Mund mit seinem Handschuh. Ihm wurde schwindelig, und einen Moment lang rannte und stürzte er gleichzeitig. Er konnte nicht mehr weiter. Die Spuren der Skier verschwanden noch immer in der Ferne. Er fiel auf die Knie. »Ian, bitte … antworte.«
Die Wölfe heulten erneut. Sie waren näher gekommen. Er durfte nicht rufen, weil er sie dann anlocken konnte. Hatte er nicht gelesen, dass sie Menschen nicht angriffen, es sei denn, sie waren ausgehungert oder tollwütig und die betreffende Person war ohnehin dem Tode nahe? Sie töteten und fraßen Hunde, sogar große Huskys. Wölfe jagten in Rudeln und waren ausgesprochen intelligent. O mein Gott … Er stand auf und rannte weiter. Die Vorstellung, dass Ian zerfetzt und bei lebendigem Leibe gefressen werden könnte, trieb ihn voran.
Plötzlich, wenige Schritte vor ihm, im wild tanzenden Strahl der Taschenlampe, konnte er erkennen, dass die Spuren der Skier eine scharfe Biegung nach rechts machten, direkt auf die Bäume zu. Er schöpfte neue Hoffnung. In dem tiefen Schnee konnte Ian auf Skiern auf keinen Fall sehr weit kommen.
Sobald Dafydd die Route verlassen hatte, sank er bis zu den Hüften ein. An manchen Stellen war der Schnee hart genug, um sein Gewicht zu tragen, und er kraxelte rund zehn oder zwanzig Meter auf allen vieren die Schneewehen hinauf und hinunter.
Dort, an einen Baum gelehnt, saß Ian. Er hatte eine halb aufgerauchte Zigarette zwischen
Weitere Kostenlose Bücher