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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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das noch – zum Krankenhaus. Na, und wenn schon; viele Leute taten das, betranken sich und fuhren am nächsten Tag zur Arbeit. Assistenzärzte waren für ihre Sauforgien bekannt – eine Art von Flucht vor dem gnadenlosen Arbeitsplan, der erdrückenden Verantwortung und den Stunden, in denen sie für ihre Examina pauken mussten.
    Dafydd war sofort auf die Station gegangen, um nach dem kleinen Jungen, Derek Rose, und seiner Mutter zu sehen. Er war sich seiner rot geränderten Augen und seines verräterischen Atems bewusst. Aber er hätte sich nicht zu sorgen brauchen, dass er keinen guten Eindruck machte. Sharon Rose war eine arme, alleinerziehende Mutter um die zwanzig. Sie trug durchgescheuerte Jeans und eine billige Arbeitsjacke, und ihre gelb verfärbten Finger wirkten nervös, als giere die Frau nach einem Glimmstängel. Sie gehörte zu jenen Unglückseligen, die an die Allmacht der Ärzte glaubten – Männer und Frauen in weißen Kitteln, deren Meinung nicht in Frage gestellt werden sollte, weil sie sich nicht irren konnten.
    Dafydd wünschte, er hätte sie gleich dort eines Besseren belehrt und ihr mitgeteilt, dass er ihren Sohn aufgrund seines Zustands nicht operieren konnte. Aber Briggs hatte ihn eingeschüchtert und seine Einwände beiseitegewischt. Dafydd galt jetzt als fertig ausgebildeter pädiatrischer Chirurg, auf der Schwelle zum Facharzt, und Briggs’ Empfehlung würde außerordentlich wichtig für seine weitere Laufbahn sein.
    Während er sich für die Operation die Hände desinfizierte, blieb seine Besorgnis bestehen. Es war nicht nur seine Übelkeit und sein leicht zittriger Blick. Es war vor allem die Vorahnung drohenden Unheils. Aber er war Realist, nicht abergläubisch. Obwohl seine Instinkte ihm rieten, sich zurückzuziehen, machte er weiter und zog sich die Latexhandschuhe über.
    Alles schien nach Plan zu verlaufen. Die Organentnahme war leicht, und er dachte schon, er habe sich grundlos gesorgt. Einen Moment lang hielt er die Niere des Jungen in der Hand. Dann betrachtete er sie genauer und war erstaunt. Außer einer kleineren Entzündung sah sie nicht besonders erkrankt aus, obwohl die Röntgenaufnahme eine gewisse kanzeröse Vergrößerung zeigte. Fraglos befand sich der Tumor innen, aber dennoch …
    Als er die Hände ausstreckte, um die Niere in die Schale zu legen, welche die Schwester ihm hinhielt, flüsterte ihm die Assistenzärztin plötzlich etwas ins Ohr. Ihre Stimme hatte eine scharfe Dringlichkeit, und sie ergriff, viel zu fest, seinen Arm und zeigte auf die Röntgenaufnahme. Seine Hand verharrte mitten in der Luft, und er blickte auf das Bild. Sein Herz verkrampfte sich schmerzhaft, und er spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich.
    Es konnte passieren, und es passierte; nicht oft, aber es geschah. Trotz all seiner Sorgfalt und Konzentration hatte das Unglück durch ein Etikett seinen Lauf genommen. Er hatte das Etikett auf der Röntgenaufnahme nicht genau genug geprüft, und jetzt bemerkte er, dass sich der kleine weiße Aufkleber auf der Rückseite befand. Das Bild von den inneren Organen des Jungen war falsch herum gedreht worden. Es war so verrückt, dass es den Stoff für Cartoons hätte abgeben können, wäre dadurch nicht das gesamte künftige Leben des Jungen in schreckliche Gefahr geraten. Er hatte sich zu sehr auf die bevorstehende Operation konzentriert, auf das Fleisch und Blut des Jungen, und vergessen, sich vorsichtshalber noch einmal bei der Mutter zu erkundigen oder die Krankenakte gründlich zu lesen.
    Der katastrophale Fehler ließ ihn taumeln. Er musste sich von der Assistenzärztin ablösen lassen. Magensaft stieg in seiner Kehle hoch, und er rannte zur Toilette. Zurück blieb ein geschocktes und von Panik erfülltes Team, dem er es überließ, sich mit den Folgen seines Handelns zu befassen und in rasender Eile nach einem Transplantationschirurgen zu suchen, der die Niere retransplantieren konnte.
    Sein eigener Anteil an der Wiedergutmachung hatte darin bestanden, Sharon Rose gegenüberzutreten und sie darüber zu informieren, was er getan hatte. Zumindest das hatte er getan. Ihre Ungläubigkeit war niederschmetternd, seine Scham und Reue grenzenlos. Danach verfiel er in eine schwere Depression, die ihn bis ins Mark lähmte. Es war leicht zu verstehen, warum sich manche Ärzte das Leben nahmen.
    Er wurde sofort vom Dienst suspendiert, und man leitete eine Untersuchung gegen ihn ein. Briggs rief ihn zu Hause an und meinte, er solle seinen

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