Zeit der Eisblueten
»Gartenurlaub« genießen. Er werde Dafydds Kompetenz bescheinigen. Schließlich sei das alles unter »außergewöhnlichen Umständen« geschehen.
»Ja. Ein blödsinniges Golfspiel«, rief Dafydd in die Dunkelheit des fremden Raumes und dachte dabei an die »außergewöhnlichen Umstände«, die Briggs bewogen hatten, ihn um den unheilvollen Gefallen zu bitten.
Damals schien seine Karriere ruiniert zu sein. Er wusste nicht, ob er, unabhängig vom Ausgang der Untersuchung, künftig noch als Arzt arbeiten konnte. Zwei Monate später wurde er entlastet. Man gab Briggs die Schuld an dem Fehler, weil er als leitender Facharzt die Verantwortung trug und Derek Rose sein Patient war. Die ganze Angelegenheit wurde als »Systemfehler« heruntergespielt.
Für Dafydd war es kein Sieg. Dem kleinen Jungen war inzwischen seine von Krebs befallene Niere entfernt worden, und seine andere, einst völlig gesunde Niere arbeitete nicht mehr einwandfrei und war verwundbar. Daran trug Dafydd die Schuld. Er hätte Derek mit Freuden eine seiner eigenen Nieren überlassen, wenn das machbar gewesen wäre. Ein lautes Prasseln war zu hören, und heißes Wasser begann zischend durch Leitungen zu fließen. Offenbar nahte der Morgen. Dafydd stemmte sich aus dem Bett, trat ans Fenster und zog den dunklen Vorhang zur Seite. Zu seiner Überraschung herrschte draußen schon helles Tageslicht, obwohl es erst 3.45 Uhr war. Er zog an dem Fenster. Es war so konstruiert, dass es sich nur einen Spaltbreit aufklappen ließ, aber er genoss die hereinströmende kalte Luft. Am Fensterrahmen hing lose ein Insektennetz. Als Dafydd auf die Straße hinunterblickte, stellte er fest, dass alles mit einer Staubschicht bedeckt war. Die Umgebung schien mit einem feinen grauen Puder besprüht worden zu sein. Kein Wunder, dass sich Martha Kusugaq über seinen guten Anzug lustig gemacht hatte.
Ein einsamer Hund streunte die Straßenmitte entlang. Ein ausgezehrtes, räudiges Geschöpf, das dennoch frech wirkte. Der Hund blieb stehen und sah aus runden Augen zu Dafydd empor. Dann trabte er weiter, auf sein Ziel zu. Dafydd schirmte seine Augen gegen das helle Licht ab und blickte ihm nach, bis sein knochiges Hinterteil auf der Straße gen Norden in der Ferne verschwunden war. Irgendwo dort, am Ufer des Nordpolarmeeres, lagen Inuvik und Tuktoyaktuk. Knapp tausend Kilometer südöstlich befand sich Yellowknife. Dazwischen gab es nichts als ein paar winzige Siedlungen.
Von einer plötzlichen Niedergeschlagenheit ergriffen, zog Dafydd den staubigen Vorhang vor die taghelle Nacht und legte sich wieder ins Bett, zwischen das Decklaken und die fleckige rosafarbene Daunendecke aus Satin.
KAPITEL
3
Cardiff, 2006
L ieber Dafydd,
ich bin froh, dass Du den Brief von Miranda beantwortet hast, obwohl ich nicht verstehe, warum Du sie, in diesem Stadium, völlig desillusionieren willst. Nun, ich vermute, dass es ein gewisser Schock gewesen sein muss, erst all diese Jahre verstreichen zu lassen und zu vergessen, was geschehen ist, und dann daran erinnert zu werden, was Du zurückgelassen hast. Du hattest offensichtlich keinerlei Interesse oder Pflichtgefühl, da wir nie ein Wort von Dir gehört haben.
Du hattest fast dreizehn Jahre der Freiheit von Pflich ten und Sorgen, aber ich fürchte, dass das Problem jetzt angesprochen werden muss. Zwillinge ohne Vater aufzuziehen war nicht leicht, weder finanziell noch sonst wie.
Ich weiß, dass Du verheiratet bist, aber ich bin sicher, Deine Partnerin wird als Frau verstehen, dass Du Pflich ten gegenüber Deinen natürlichen Kindern hast.
Du hast meine Nummer. Es hat keinen Sinn, es aufzuschieben.
Mit den besten Grüßen
Sheila Hailey
Ein Sturm war angekündigt worden, und der Wind fegte heftig um die Rückseite des Hauses. Dafydd saß am Küchentisch, goss sich ein Glas Wein ein und wartete darauf, dass Isabel den Brief las. Sie stand am Fenster und hielt den Brief gegen das Licht, wie sie es manchmal mit Geldscheinen tat, um deren Echtheit zu überprüfen. Aber er wusste, dass dieses kleine Ritual für ihn gedacht war. Die Art, wie sie auf das Papier schielte, wobei sich ihre Augenbrauen fast in der Mitte trafen …
Was er ihr nicht gezeigt hatte, war ein dem Brief beigelegter Schnappschuss: ein molliges dunkelhaariges Mädchen, das ihren Arm um einen dünnen, schlaksigen Jungen mit langem rotem Haar gelegt hatte. Für Zwillinge sahen sie völlig unterschiedlich aus, und keiner von beiden hatte auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit
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