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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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zu erinnern. Oder?« Er blickte Dafydd durchdringend an.
    »Sicher nicht, darauf können Sie sich verlassen. Ich bin selbst halber Waliser.«
    Sleeping Bear enthüllte, dass er vor ein paar Problemen in Wales geflohen und 1934 in die Gegend gekommen war. Nach einigen harten Jahren hatte er schließlich eine kanadische Ureinwohnerin geheiratet, die ihm zwei Söhne schenkte. Dafydd hörte fasziniert zu und konnte oft nur mit Mühe den Drang unterdrücken, von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Dieser typische, bilderbuchartige, weise alte Indianer entpuppte sich als Waliser aus Pontypridd und hatte möglicherweise Tür an Tür mit seinen eigenen Großeltern gelebt.
    »Und wie sind Sie zu Ihrem Namen gekommen?«
    »Ja wissen Sie, damals konnte ich die Winter zuerst nicht ertragen. Sie werden’s noch erleben, junger Mann, und dann werden Sie verstehen, was ich meine. Sie müssen sich klarmachen, dass heute alles sehr komfortabel ist, mit beheizten Häusern und Autos, die Sie überall schnell hinbringen. Aber damals musste man alles zu Fuß erledigen und fror sich den Arsch ab. Ich hab ein paar Zehen verloren. War es nicht gewohnt, verstehn Sie?«
    Dafydd warf einen Blick auf Bears ausgebleichte Schuhe und fragte sich, wie viele Zehen jemand verlieren und dennoch in solch einem Gelände überleben konnte.
    »Also vergrub ich mich den gesamten Winter in meiner Hütte und ließ das Feuer brennen. Die Indianer haben mich ausgelacht, aber sie waren freundliche Leute und brachten mir was zu futtern und Feuerholz.«
    »Also haben Sie Winterschlaf gehalten?«
    »Sie haben’s erfasst«, rief Sleeping Bear begeistert. »Und der Name ist mir irgendwie geblieben.«
    Er machte sich daran, die zerlumpten langen Unterhosen über seine groben Stiefel zu ziehen, und kicherte leise über irgendwelche alten Erinnerungen.
    »Und haben Sie sich schließlich an die Winter gewöhnt?«
    »Sicher. Das musste ich. Sie werden sehen, wie es ist, wenn Sie Ihren ersten Winter hier erleben, und das wird schon bald sein. Im dritten Winter hatte ich mich mit meiner Frau zusammengetan, und ein Baby war unterwegs. Ich musste in den sauren Apfel beißen und rausgehen und Fallen stellen. Später, als die Stadt wuchs, verdiente ich mein Geld damit, Eisblöcke aus dem Fluss zu schneiden und sie mit einem Pferdegespann in die Stadt zu ziehen.
    Man hörte ein schwaches Motorengeräusch, das die Hunde sofort in Alarmbereitschaft versetzte.
    »Na, ich werd in Biberspucke tauchen und mich mit Elchscheiße bewerfen lassen«, rief Bear. »Das wird mein Enkel sein.«
    Er sprang aus dem Bett und sauste in den Hof, alle Schmerzen und Gebrechen vergessend. Ein kleiner, stämmiger Mann mittleren Alters mit langem schwarzem Haar stieg aus einem funkelnden Kleintransporter. Er betrachtete Dafydd argwöhnisch, schüttelte ihm jedoch die Hand, als Bear sie einander vorstellte.
    »Das hier ist der neue Medizinmann. Er hat meine Hose ruiniert, mich aber ziemlich gut wieder zusammengeflickt.« Bear hüpfte herum wie ein munterer Jugendlicher. »Er ist den ganzen Weg hier rausgekommen, um mich zu untersuchen.«
    Der Enkel sagte nichts, sondern stand da und starrte Dafydd mit runden, pechschwarzen Augen an.
    »Tja, dann will ich mal«, meinte Dafydd. »Ich komme mit weiteren Ampullen wieder und zeige Ihnen, wie Sie’s sich selbst spritzen können. Dann können Sie hier bleiben.« Er stieg ins Auto und fuhr los.
    »Vergessen Sie die Hose nicht«, schrie Bear hinter ihm her.
    Als er den holprigen Weg zurückfuhr, bemerkte Dafydd, dass seine Hemdsärmel schmutzig waren. Zudem hatte er sich eine Mischung aus Blut und Eiter auf die Vorderseite seines guten Hemdes geschmiert und es dadurch vermutlich ruiniert. Seine Krawatte hing schlaff herab wie eine abgestorbene Erektion. Er nahm eine Hand vom Lenkrad und strich sich mit den Fingern durchs Haar. Es wurde allmählich lang. An seinen Schläfen ringelten sich korkenzieherartige dunkle Locken. Aus den Augenwinkeln konnte er sie deutlich erkennen. Die frischen grauen Strähnen erinnerten ihn daran, warum er diesen staubigen Pfad in einem verbeulten alten Chrysler zurücklegte statt rittlings auf seiner funkelnden Velocette, mit der er sich elegant durch die Verkehrsstaus in Bristol geschlängelt hatte. Wenigstens arbeitete er noch und versuchte, etwas wiedergutzumachen. Ein weiser alter Ureinwohner, dachte Dafydd lächelnd, war der Erste, der die Tiefe seines Unglücks begriffen hatte.
    Er hatte noch einen weiteren Hausbesuch zu

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