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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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machen, am Rand von Moose Creek, in einer der sogenannten Vorstädte. Schon bald waren die grauen Häuserreihen auf der linken Seite des Highway zu sehen. Er befeuchtete seine Hand mit Wasser aus der Flasche, die auf dem Beifahrersitz lag, und versuchte, seine ungebärdige Mähne zu glätten.
    »Geben Sie ihm denn nichts?«, forderte die junge Frau und legte die Hände auf ihre mächtigen Schenkel. Ihre Haut war fahl und ihr Haar strähnig, als wäre es mit Speiseöl durchgekämmt worden. Der Blick ihres Mannes klebte an einem Baseballspiel, das gerade im Fernsehen lief, und er hatte sich weder umgedreht noch sonst wie signalisiert, dass er Dafydds Gegenwart zur Kenntnis nahm. Das periodische Jubelgeschrei der Massen klang in dem engen Raum seltsam und bildete einen unheimlichen Gegensatz zu der bedrückenden Existenz seiner Bewohner.
    Der kleine Junge hustete. Es war ein schleimiger Husten, aber er hatte kein Fieber.
    »Es ist nur eine normale Erkältung«, versicherte Dafydd der Frau.
    »Sie können nich’ einfach gehn und ihm nix geben«, sagte sie aggressiv und versperrte ihm mit ihren breiten Hüften den Weg.
    »Dieser Zigarettenrauch«, meinte Dafydd und machte eine unbestimmte Handbewegung durch das Zimmer, »könnte etwas mit seinem Husten zu tun haben.«
    »Quatsch«, erklärte die Frau, und der Mann auf dem Sofa drehte sich halb zu ihnen um. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Dafydds Brust. »Er hustet schon, seit er ganz klein war. Hogg hat zu mir gesagt, dass seine Lungen im Arsch sind.«
    »Das wundert mich nicht«, gab Dafydd zurück und versuchte, nicht sarkastisch zu klingen. »Geben Sie ihm etwas Vitamin C, Junior Aspirin und etwas Frischluft, dann wird sich seine Erkältung in ein paar Tagen bessern.« Er kniete sich hin und rubbelte über die struppigen Haarbüschel des Jungen. »Warum gehen Sie mit ihm nicht nach draußen?«, wandte er sich an den Mann vor dem Fernseher. »Es ist ein herrlicher Tag. Ein wenig Sonne würde ihm guttun.«
    Der Mann drehte den Kopf wieder halb zu ihm um, aber seine Augen lösten sich nicht vom Bildschirm.
    »Was soll das heißen?«, protestierte die Frau. »Haste das gehört, Brent? Der Doktor will, dass du die versauten Lungen vom Kleinen an die frische Luft bringst. Haste da noch Worte?«
    Der Mann namens Brent antwortete noch immer nicht. Dafydd wusste nicht, ob etwas am Köcheln war und der Mann plötzlich mit einem Wutausbruch reagieren würde, oder ob seine Apathie und Gleichgültigkeit endgültig und unumkehrbar waren. Beides war beunruhigend.
    »Das ist alles, was ich für Ihren Sohn tun kann. Das Übrige liegt wirklich bei Ihnen.«
    »Sie haben nichts getan!«, keifte sie hinter ihm her, als er schnell zum Auto schritt. »Sie sind doch eine echte Gefahr für Kinder«, schrie sie. »Fahrlässigkeit, das ist es.«
    Ein paar Frauen kamen auf ihre Veranden, um herauszufinden, worum es bei dem Geschrei ging. Dafydd spürte, wie sich sein Hals vor Beklemmung rötete, während er ins Auto stieg. Eine echte Gefahr für Kinder, wie recht sie hatte. Vielleicht sollte er die Hausbesuche besser aufgeben. Außerdem waren seine Fähigkeiten als Allgemeinmediziner in der Tat verkümmert, und die Menschen schienen irgendwelche Wunderpillen und Mittelchen zu erwarten, die sie im Nu wieder gesund machten. Offenbar war Dr. Odent eine wandelnde Apotheke gewesen und hatte gern Privatgeschäfte gemacht.
    Dafydd ließ den Motor an. Dann zögerte er und suchte nach dem Rezeptblock in seiner Aktentasche. Natürlich würde ein Antibiotikum dem Jungen nicht schaden, auch wenn es ihm nicht nützte. Aber die Vorstellung, an die Tür zu klopfen und Abbitte zu tun … Die Bezeichnung »weißer Abschaum« fiel ihm ein, und er sprach sie laut aus. Ein widerwärtiger Ausdruck, aber jetzt wusste er ganz genau, was er bedeutete.
    »Also haben wir unser Ding gemacht?«, fragte Sheila.
    Er hatte bemerkt, dass sie die Angewohnheit hatte, sich an Türrahmen zu lehnen und dabei die Arme so zu verschränken, dass ihre Brüste hochgeschoben wurden. Die glatten weißen Hügel quollen geradezu aus ihrer Uniform heraus. Lächelnd befeuchtete sie mit der Zunge ihre Unterlippe.
    »Was für ein Ding meinen Sie?« Dafydd war nicht in der Stimmung für ihre Spötteleien. Er saß in der Ärztekantine und versuchte, aus den Patientenakten schlau zu werden. In die von Sleeping Bear war seit einigen Jahren nichts mehr eingetragen worden.
    »Das Arztspielen.«
    Dafydd hielt inne, um zu überlegen, wie er mit

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