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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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Valley. Der Fluss selbst strömte mächtig zum Nordpolarmeer hin. In der Ferne begann im Norden die unfruchtbare Tundra, während im Westen die schneebedeckten Gipfel des Mackenzie-Gebirges gen Alaska zurückwichen. Eine so weite Sicht schien unmöglich zu sein, aber vielleicht war die Entfernung eine Art visueller Illusion, entstanden durch die klare Luft. Er meinte, die Krümmung der Erde ausmachen zu können, aber auch das war unmöglich, weil ihn der Horizont umschloss. Dafydd drehte sich langsam um und hatte plötzlich den Eindruck, in der Mitte von allem zu sein. Ein Gefühl der Euphorie überkam ihn.
    Über sich sah er einen großen Vogel kreisen. Vermutlich handelte es sich um einen Kranich, denn er hatte einen langen Hals und eine große Flügelspanne. Der Vogel stieg höher auf, und seine Flügel leuchteten in einem intensiven Rosa. Dafydd folgte ihm mit dem Blick nach oben in Richtung Sonne, aber als der Vogel im hellen Licht verschwand, kam er ruckartig zu sich selbst zurück. Enttäuscht atmete er aus. Noch immer verbarg sich hinter dieser komplexen und perversen Existenz etwas anderes. Vielleicht ein Fünkchen Hoffnung. Das Leben würde weitergehen.
    Er stieg wieder ins Auto und blieb einen Moment lang sitzen. Dann nahm er den Zettel mit der Wegbeschreibung, den Sheila Hailey für ihn vorbereitet hatte.
    »Beschilderung Mile 12,5. Links abbiegen und nicht ganz 5 Kilometer den Weg entlangfahren, bei der Gabelung rechts. Nach etwas mehr als 3 Kilometern kommt die Hütte.«
    »Sie brauchen das nicht zu tun«, hatte sie gesagt. »Wir schicken einfach einen Krankenwagen und holen ihn, dafür ist der Wagen ja da. Außerdem hat der alte Mann einen Enkel, der …«
    »Ich will das aber tun«, beharrte Dafydd. »Sleeping Bear – Schlafender Bär – klingt interessant. Ich würde gern sehen, wie er wohnt.«
    »Sie sind wirklich ein blauäugiger Wunderknabe, nicht wahr?« Durch ihre halb geschlossenen Augen warf sie ihm einen prüfenden Blick zu. »Nehmen Sie den Schlips ab. Sie wirken einfach lächerlich. Schließlich suchen Sie einen mottenzerfressenen, halb toten alten Eingeborenen auf, nicht irgendein Staatsoberhaupt.«
    Der Weg war fast unpassierbar. Nach etwa einer halben Stunde Fahrzeit direkt in die unberührte Natur gelangte er schließlich in eine kleine, von hohen Tannen umstandene Lichtung. In der Mitte stand eine Hütte aus roh behauenen Baumstämmen mit Schindeldach. Mehrere Autos in unterschiedlichen Verfallsstadien waren auf dem Hof verstreut, und an einer Wäscheleine hingen ein paar Überreste zerfetzter Kleidung.
    Als Dafydd aus dem Auto stieg, erschien ein alter Mann. Er trug ein Bündel Stöcke, Anmachholz möglicherweise. Sein Haar war hüftlang und dünn. Lederbänder teilten es in zwei Schwänze, einen unter jedem Ohr. Seine Kleidung war ebenfalls lederig, obwohl ihr Ursprung nicht zu erraten war. Von den Substanzen eines harten Lebens war sie steif und schwarz geworden.
    »Mr Sleeping Bear?«
    »Nennen Sie mich einfach Bear. Jeder tut das.« Der Mann reichte Dafydd eine schmutzige Hand. Sie war teilweise mit Stoffstreifen umwickelt, die möglicherweise einmal ein Verband gewesen waren.
    »Ich bin Doktor Woodruff.« Dafydd schüttelte die uralte Hand und ging zur Hütte. »Ich wollte Ihnen die Fahrt in die Stadt ersparen. Sollen wir reingehen und Sie untersuchen?«
    »Die Krankenschwester mit dem Karottenhaar hat mich angerufen und mir von Ihnen erzählt. Sie hätten nicht den ganzen Weg hier rauszukommen brauchen.« Der alte Mann musterte Dafydds frisch gebügeltes Hemd und seine Seidenkrawatte mit zusammengepressten Augen. Vermutlich fand er, dass Dafydd viel zu sauber war, um sich mit Krankheiten auseinanderzusetzen. »Ich brauch keine Hilfe mehr. Mir geht’s schon wieder viel besser.«
    »Aber ich bin extra den ganzen Weg hergekommen, um Sie zu sehen«, protestierte Dafydd. »Ich möchte Sie zumindest einmal untersuchen. Das schadet Ihnen doch nicht.«
    »Kommen Sie rein«, lud ihn Bear mit einer Bewegung seines freien Armes ein. »Ich koch Ihnen einen Kaffee.«
    In der Hütte war es sehr dunkel, und Dafydd atmete hastig ein, als ihn mehrere Augenpaare finster anblickten. Mehrere Paare behaarter Lippen wurden hochgezogen und entblößten gelbe Fänge. Alles in absoluter Stille.
    »Ruhig, Jungs«, befahl Bear mit beschwichtigender Stimme.
    Die Huskys, ungefähr sechs oder sieben, gehorchten sofort und legten sich wieder auf den Boden.
    »Beachten Sie sie nicht«, lachte Bear, und

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