Zeit der Eisblueten
dass seine Aktentasche unter dem Nachttisch lag. Sie schien von einem Rudel großer Hunde zerfetzt worden zu sein. Von seinem geliebten Motorrad abgesehen, war das der schwerste Unfallschaden. Einen Moment lang starrte er sie bestürzt an. Dann dankte er dem Allmächtigen, dass es sich nicht um sein Gehirn handelte.
Er hätte froh sein sollen, aber er fühlte sich wie ausgeweidet. Es war schlimm genug. Er brauchte sie. Der Unfall war seine eigene Schuld, und eine gewisse Strafe dafür war zu erwarten, aber er wünschte sich, dass sie nicht von Isabel kam. Er wünschte sich, sie würde ihn verteidigen und entlasten – als den Menschen, der er wirklich war: verantwortungsbewusst, fähig, vertrauenswürdig; als den Mann, den sie kannte und angeblich liebte.
Aber er wusste, dass es nicht nur an dem Unfall lag, sondern an Sheila Hailey und ihren Behauptungen. Daran, dass es ihm immer wieder misslungen war, ein echter Mann mit echten, lebenden Spermien zu sein, die sie endlich zu einer echten Frau, einer ganzen Frau, einer Mutter machten. Und jetzt weigerte er sich sogar, es zu versuchen. Er hatte sie enttäuscht – in jeder Beziehung.
KAPITEL
8
Moose Creek, 1992
D ER M ONAT N OVEMBER war außergewöhnlich kalt. In einigen Nächten fiel die Temperatur auf minus fünfzig Grad. Der größte Teil des jährlichen Schneefalls überzog die Landschaft bereits. Eine weiße, reglose Decke hatte sich auf die Wälder gelegt. Die Luft war sehr still und klar.
Im Gegensatz dazu wirkten die Straßen von Moose Creek schmutzig. Die an allen Straßenecken hochgeschaufelten Berge aus Schnee und Eis waren mit dem Dreck der menschlichen Siedlung durchmischt und erneut durchmischt worden. Dafydd war auf dem schmuddeligen Eis des Bürgersteigs ausgerutscht und hatte sich den Knöchel verrenkt. Er war nicht der Einzige. Viele Glieder- und Schädelbrüche wurden durch diese gefährliche Situation verursacht. Niemand schien sich darüber zu beschweren. Gelegentlich, wenn es an einem Montag genug guten Willen, Material und Arbeitskräfte gab, streute man planlos eine Wagenladung Sand auf Straßen und Fußwege, aber im Großen und Ganzen erwartete man, dass die Bewohner selbst auf sich aufpassten.
Dafydd empfing seine Patienten in der Klinik, aber außerhalb seiner Arbeitszeit war er an seinen kalten Wohnwagen gefesselt. Der Ort war deprimierend und stank unerträglich, besonders seit sich ein Kater hineingeschlichen und einen ganzen Tag damit verbracht hatte, in aller Ruhe die Kleidung, das Mobiliar und die Bettwäsche vollzusprühen. Mrs Breummer, die noch immer unter starkem Geldmangel litt, hatte Dafydd geholfen, alles abzuschrubben, aber selbst die größten Mengen an Reinigungsmitteln konnten den Gestank nicht völlig entfernen.
Als der Winter mit seiner ganzen Macht nahte, hielt Dafydd sich häufiger in Ians Hütte auf. Manchmal bot ihm Ian eine Mahlzeit aus der Dose an, oder Dafydd kaufte Mitnehmpizzas, die bei seiner Ankunft allerdings schon weitgehend gefroren waren. Wenn es nach Ian gegangen wäre, hätten sie im Klondike gewohnt, vor allem in der Bar. Die süße, gesittete Tillie war trotz ihrer hinderlichen Korpulenz zur stellvertretenden Managerin befördert worden, und sie hatte Dafydd zu ihrem Favoriten unter den Gästen gemacht – zu dem einen, der großzügig bemessene Alkoholmengen am ehesten verdient hatte. Ian war in Tillies Augen kein solcher Vorzugskandidat, aber er profitierte durch seine Verbindung mit Dafydd.
Brenda war geschäftsmäßig wie immer, freundlich und mit einem beißenden Humor. Sie erwähnte ihr Zusammensein am Jackfish Lake nie mehr. Dafydd, obwohl dankbar dafür, war erstaunt über ihre Gleichgültigkeit. Hatte er sich derart blamiert, oder war sie vielleicht an jemand anderen gebunden? Möglicherweise wollte sie auch lieber allen Verwicklungen aus dem Wege gehen. Schließlich sprach sich in Moose Creek alles schnell herum. In Augenblicken reiner sexueller Frustration und der Erinnerung an ihre lüsternen Oberschenkel, die in jener magischen Wildnis auf ihm ritten, hätte er sie am liebsten gepackt und gebeten, die Erfahrung zu wiederholen (aber diesmal in einem Gebäude). Doch er hielt sich zurück, weil ihm das zu dreist und zu kompliziert erschien. Und als er bemerkte, dass Ian manchmal mit ihr schlief, wusste er, dass sein Entschluss richtig gewesen war.
Zweifellos bildete Sex, in all seiner Komplexität und Vielfalt, einen wichtigen Bestandteil des arktischen Winters. Was sonst konnten die
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