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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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tüpfelten ihre Fußnägel, abgestoßen und vergessen seit den letzten Tagen des Sonnenscheins und der Sandalen. Das gefrorene Lächeln auf ihren Lippen störte ihn. Er hätte lieber Zeichen der Qual entdeckt und dadurch erfahren, dass sie um ihr Leben gekämpft hatte. Aber hatte Ian nicht gesagt, ein Tod durch Erfrieren sei eine schmerzlose, ja sogar angenehme Erfahrung, die ein wenig dem Ertrinken gleiche?
    Einen Teil seines Unbehagens bildete ein vages Gefühl der Begierde. Das Mädchen war schön. Nicht auf die Art, wie er normalerweise Schönheit wahrnahm, aber sie war das exotischste Geschöpf, das er je untersucht hatte. Ihr rabenschwarzes Haar fühlte sich rau an. Die Wangenknochen waren so hoch, dass sie an die unteren Augenlider stießen, als verzöge sie das Gesicht vor Lachen. Als er ihren straffen, festen Körper betrachtete, verspürte er den Drang, ihn zu streicheln. Zugleich fühlte er sich angeekelt und abgestoßen. Was war los mit ihm, dass er halb erotische Gefühle für eine Leiche empfand? War das ein Anzeichen von Wahnsinn, ein Hüttenkoller, oder einfach Einsamkeit? Ihm wurde bewusst, dass er Anettes warmen, atmenden Körper vermisste, so kurz die Affäre auch gewesen war, und es gab niemanden sonst. Er zog ein Tuch über das tote Mädchen und ließ den Hilfspfleger kommen, damit er sie in den Leichenkeller rollte.
    In derselben Nacht rief Sheila ihn an, damit er sich um einen Mann kümmerte, der bewusstlos ins Krankenhaus gebracht worden war. Als Dafydd dort eintraf, war es vier Uhr morgens, und die Nacht hatte ihren kältesten Punkt erreicht. Der Mann war von einer Kellnerin, die gerade von einem außerehelichen Rendezvous kam, in einem schneegefüllten Graben gefunden worden. (Dafydd unterließ es zu fragen, wieso Sheila die intimen Einzelheiten der armen Frau kannte.)
    Der Patient, ein Ureinwohner namens David Chaquit, wärmte sich wieder auf und kehrte ins Leben zurück, wenn auch noch immer im Vollrausch. Er hatte Glück gehabt. Seine Kleidung war dick genug gewesen, und offenbar hatte er noch nicht lange im Schnee gelegen. Dafydd und Sheila wuchteten ihn auf eine Liege. Dort räkelte er sich, kicherte und zwinkerte ihr sabbernd zu. Sein Handgelenk war gebrochen, was sich problemlos behandeln ließ. Doch sein linkes Ohr hatte länger den Boden berührt. Es war geschwollen und weiß, transparent wie Glas.
    Dafydd schiente das Gelenk. Dann zog er seine Gummihandschuhe aus, um zu seinem Wohnwagen zurückzukehren. Die Nacht war so kalt, dass er befürchtete, der Chrysler sei eingefroren, während die Ölwannenheizung auf dem Krankenhausparkplatz ausgeschaltet war.
    »Was ist mit dem Ohr?«, fragte Sheila ziemlich scharf. »Warum behandeln Sie es nicht jetzt?«
    »Das lasse ich bis morgen.«
    »Jetzt ist morgen«, beharrte Sheila.
    »Dann komme ich eben später wieder.«
    »Ihre Empfindlichkeit gegenüber den schmutzigeren Teilen der Arbeit ist ja schön und gut.« Sie lächelte, aber ihre Augen waren matt, und das klare Blau der Iris schien durch Schlafmangel abgedunkelt worden zu sein. »Trotzdem muss es jemand tun. Haben Sie daran gedacht?«
    Dafydd spürte eine prickelnde Hitze in seinem Nacken aufsteigen. »Ich habe fest vor, mich darum zu kümmern. Allerdings meine ich, dass Mr Chaquit vorher besser wieder nüchtern sein sollte. Ich möchte mit ihm darüber sprechen. Das ist doch sinnvoll, oder? Wie würde es Ihnen gefallen, wenn Sie eines Morgens aufwachten und Ihnen fehlte ein Ohr? Außerdem will ich sehen, wie viel davon gerettet werden kann. Jetzt ist es noch viel zu früh, das zu beurteilen.«
    Seine Erklärung ärgerte ihn sofort. Er brauchte sein Verhalten nicht zu begründen. Er war ihr nicht rechenschaftspflichtig. Sie betrachtete seinen Hals mit geneigtem Kopf, und er erinnerte sich daran, dass sie um den schwarzen Fleck auf seiner Seele wusste; sie kannte seine Ängste und Unsicherheiten. Sie konnte in ihm lesen wie in einem Buch. Zwar bezog sie sich nicht direkt darauf, aber sie ließ ihr Wissen permanent über ihm baumeln. Abrupt wandte er sich ab und humpelte aus dem Operationssaal.
    »Also besteht nicht die Gefahr eines Wundbrands?«, rief sie hinter ihm her.
    »Bestimmt nicht«, antwortete er, ohne sich umzudrehen.
    Dämliches Weib; man könnte ebensogut sie als Ärztin einstellen. In jedem Fall hatte sie das letzte Wort. Er wusste, dass er sie bald zur Rede stellen, sie irgendwie herausfordern musste. Aber der Gedanke missfiel ihm, weil sie dann seine Schande zur Sprache

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