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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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gleichen Tonfall. »Übrigens – willst du dir das wunderbare Mädchen von jemand anderem weggeschnappen lassen?«
    »Ich kann immer da weitermachen, wo ich aufgehört habe.« Ian zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und musterte Dafydd mit komisch zusammengekniffenen Augen. »Hey, reg dich ab. Es ist Weihnachten, verdammt, und du läufst herum, als hättest du ein Stethoskop im Arsch. Warum amüsierst du dich nicht ein bisschen?«
    Wirkte er tatsächlich so? Wie ein verkrampfter, humorloser Trottel, der das alte kanadische Vorurteil gegenüber Briten bestätigte? Vielleicht setzte ihm Sheila ja gar nicht grundlos zu. Ian hatte recht: Es lag noch ein ganzes Leben vor ihm, in dem er sich um Patienten und ihre Meinung über ihn sorgen konnte. Es wurde Zeit, dass er sich von seiner dämlichen Neurose löste, von seiner Angst, Fehler zu machen.
    »Ich nehme deinen Rat an und werde mir mehr Mühe geben.«
    Ian lachte sein seltenes schallendes Lachen, und die Leute drehten den Kopf in seine Richtung. »Es geht nicht darum, sich Mühe zu geben, du Blödmann, sondern um das genaue Gegenteil. Du musst es laufen lassen.«
    Dafydd fühlte eine Woge der Dankbarkeit für den Mann, auch wenn er nicht gerade der Richtige war, über Verhaltensweisen zu sprechen. Den Dingen ihren Lauf lassen und sich nicht um die Konsequenzen scheren tat ihm nicht sonderlich gut, jedenfalls nicht seiner Gesundheit.
    Das Mädchen hatte sich von Ians ungehöriger Abfertigung erholt und kam zu ihnen. Sie war eine wohlgeformte, dunkelhaarige Schönheit mit haselnussbraunen Augen und einem breiten, ausdrucksstarken Mund. Unter ihrem dick aufgetragenen Make-up war sie ein ganzes Stück jünger, als es den Anschein hatte. Sie packte Ians Arm und zog ihn an sich heran.
    »Hey, stell mich deinem Freund vor.«
    »Dies ist Allegra …«
    Allegra wandte sich Dafydd zu und begann zu sprechen. Und sie hatte eine Menge zu erzählen. Sie war erst ein Jahr zuvor von der High School abgegangen, doch beschwingt von einem Glas billigen Champagners nach dem anderen, gefiel sie sich in der Rolle der verführerischen, kultivierten femme fatale. Ihr Geplapper war einfältig, aber liebenswert: über das Fehlen wirklich guter Friseure, den Mangel an Bekleidungsgeschäften, ihren letzten Freund und seine zahlreichen Unzulänglichkeiten.
    Ian entfernte sich. Spätankömmlinge drängten herein. Irgendjemand spielte auf einem schlecht gestimmten Klavier »Stille Nacht«. Ein Drink nach dem anderen tauchte in Dafydds Hand auf. Er fragte sich, ob es eine Verschwörung gab, die darauf abzielte, dass er die Fassung verlor, seine Stethoskop-im-Arsch-Art, und einfach über die Stränge schlug. Das schien eine völlig akzeptable Verhaltensweise in dieser Stadt zu sein. Die Leute kamen hierher, weil sie Ähnliches an irgendeinem anderen Ort zu oft getan hatten oder weil dies der Ort war, an dem sie sich hemmungslos ausleben konnten. Wo sonst auf der Welt konnte man derart leben und leben lassen?
    Er entspannte sich und goss hinunter, was ihm gereicht wurde. Immer häufiger blickte er sich um und versuchte, sich von Allegra zu lösen, die an ihm klebte, als wären sie bereits Liebende. Er konnte sie ohne weiteres in seinen Wohnwagen einladen, aber er musste sich vor Martha rechtfertigen und wollte ihre Fahrdienste nicht für solche Zwecke nutzen. Auch befriedigten ihn One-Night-Stands nie sonderlich, so sehr er sich auch nach der warmen Umarmung einer Frau sehnte, und das Mädchen war niemand, mit dem er viel Zeit verbringen wollte. Zudem war sie zu jung, und er hatte keine Kondome. Er prägte seinem betrunkenen Geist ein, das selbst zu praktizieren, was er seinen jüngeren Patienten predigte: Wenn du frei und ungebunden bist, dann trag immer Kondome bei dir.
    So taktvoll wie möglich trennte er sich von Allegra und ging zu Elaine, einer jüngeren Lehrerin, deren Mann kürzlich beim Absturz eines Kleinflugzeugs ums Leben gekommen war. Dafydd hatte die Überreste dieses großen, gut aussehenden Mannes begutachtet und war über seinen Zustand entsetzt gewesen. Er hatte in dichtem Nebel eine Notlandung auf einer gerodeten Strecke versucht. Die Rodung war zwar groß genug, doch mit Baumstümpfen übersät, und das Flugzeug zerschellte in mehrere Stücke. Der Körper des Mannes wurde an mehreren Stellen gebrochen, auch am Hals und am Rücken.
    Elaine saß allein auf einem Stuhl am Fenster und blickte in die dunkle Nacht hinaus. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie stark

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