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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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eine mit Seehundsfett gefüllte Lampe aus kunstvoll zu einem Halbmond geschnitztem Speckstein. Er trank mehrere Becher Wasser. Dann putzte er sich die Zähne.
    Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte einen Dreitagebart. Sein Haar war zu lang, lockig und ungebärdig. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass er sein Gesicht wieder einmal genau betrachtete, und er musste lachen. Es war eher das Gesicht eines drogensüchtigen Hippies oder das eines Wracks von einem Mann – was ja stimmte. Er erinnerte sich daran, wie es war, sich selbst zu respektieren – sein Gesicht im Spiegel zu sehen und es ziemlich attraktiv zu finden, sogar schneidig, verheißungsvoll. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit sein Leben zerbrochen war. Vielleicht reichte ein Jahr.
    Während er in dem schäbigen kleinen Badezimmer stand, besserte sich seine Stimmung plötzlich. Die Bürde lockerte sich und trieb fort. Der Torfklumpen wurde wie ein Schwamm ausgewrungen, und das stinkende Wasser lief ab. Er fühlte sich leicht, frisch, federnd.
    Er pinkelte in den »Honigeimer«, dann zog er seine Kleidung aus und stellte sich in den kleinen Kasten, der als Dusche diente. Der winzige Strahl kalten, kupferhaltigen Wassers fühlte sich so ungewöhnlich an, als stünde er unter einem Wasserfall in den Bergen. Er trocknete sich ab und zog sich an. Dann schabte er wenig effektiv mit dem Rasiermesser eines der Männer in seinem Gesicht herum und fügte sich eine Schnittwunde an der Kehle zu.
    In der Küche traf er auf Uyarasuq, die still und reglos am Tisch saß.
    »Die Väter machen einen Besuch«, erklärte sie. »Sie kommen erst spät wieder.«
    »Was tun Sie hier?«, fragte er erstaunt.
    »Ich ruhe meine alten Knochen aus«, sagte sie mit dem frischen Gesicht eines Teenagers.
    »Ich muss stundenlang geschlafen haben.«
    »Sie sagten, dass Sie meine Schnitzereien sehen wollten.«
    Er beobachtete, wie ihre weiße Haut errötete, und sie wandte das Gesicht ab, um es zu verbergen.
    »Liebend gern. Wo sind sie?«
    »In meinem Haus.«
    Sie stand auf uns zog sofort ihren Parka über. Er schaute sich nach seinen eigenen Sachen um. Sie waren in seinen Schlafsack eingerollt, den er hinter das Sofa gepackt hatte.
    Draußen war die Luft mild, und der Himmel zeigte ein schwaches Blau. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Uyarasuq nahm ihn bei der Hand und führte ihn zielbewusst um die anderen Unterkünfte herum zu einem winzigen Haus in der Nähe des Ufers. Es war ein Einzimmerhäuschen und nicht größer als der Wohnwagen, den seine Eltern in seinen Kindertagen besessen hatten. Im Innern war die Luft feucht, und man roch den Gasofen. Lange, dünne Regale säumten die Wände vom Boden bis zur Decke. Darauf hatte sie all ihre Habseligkeiten untergebracht. Überall standen kleine Specksteinschnitzereien: Jäger mit Speeren, Wale, Eisbären, Seehunde und Vögel. Sie waren vortrefflich. »Die sind hervorragend«, rief er. »Wo verkaufen Sie die Sachen?«
    »In den Galerien der kablunait«, antwortete sie und zwinkerte. »Sie wissen schon … der weißen Männer.«
    Wenn sie sich über ihn lustig machte, so störte es ihn nicht. »Also reisen Sie gelegentlich nach Süden?«
    »Nein. Ein paar Kilometer von hier gibt es eine Forschungsstation. Sie nehmen die Stücke für uns mit … gegen Provision natürlich.« Uyarasuq hatte einen Kessel auf einen winzigen Ofen gestellt und ihre Parkas an Haken gehängt, die an der Rückseite der Tür angebracht waren. »Sie sind ja eigentlich nicht so weiß. Warum habe ich nur gedacht, alle Europäer seien blond? Trotzdem sind Sie aus einem anderen Material gemacht als ich.«
    Sie trat auf ihn zu. Er hatte sich auf einen kleinen Hocker gesetzt, drehte eine ihrer Schnitzereien in den Händen und betastete den kühlen, glatten Stein. Sie schob ihm die Hand ins Haar und rubbelte es wie das eines Kindes.
    »Ein anderes Material, weich, vielleicht ein bisschen zart«, sagte sie lachend.
    Er blickte zu ihr hoch. Wie viel wusste sie über ihn? Möglicherweise hatte sie seinen bizarren Austausch mit ihrem Vater, dem Schamanen, mit angehört. Oder vielleicht hatte Bear ihr erzählt, warum er Dafydd hergebracht hatte. Aber die Art, wie sie ihn ansah, hatte nichts Mitleidiges oder Wohltätiges. Er ließ die Schnitzerei auf seinen Schoß fallen und legte die Hände um ihre Taille. Dabei fühlte er die Verjüngung ihrer Hüften und erhielt einen Eindruck von ihrem Körper. Sie schien nichts dagegen zu haben. Einen Moment später ließ er die

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