Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
Vom Netzwerk:
ausbreitete. Er erlaubte sich nicht, darüber hinaus zu denken. Auf keinen Fall an die Zukunft. Nichts durfte zerstören, was er erlebte.
    Plötzlich ließ ihn ein fernes Geräusch wie von splitterndem Kristall stoppen und nach oben schauen. Die Aurora borealis zuckte in einem Ausbruch von Farben über den Nachthimmel. Lange rote, gelbe und grüne Schweife peitschten von einem Ende des Horizonts zum anderen. Vielfarbige Schleier stiegen in einem verwickelten Tanz auf und wieder hinab. Es war ein höchst ungewöhnliches Schauspiel, und Dafydd stand reglos da, voller Ehrfurcht angesichts dieser Schönheit. Ihm war von dem Phänomen des überirdischen Klangs berichtet worden. Die Musik der Nordlichter war ein seltenes Ereignis. Viele Menschen verbrachten ihr gesamtes Leben in der Arktis, ohne sie je zu vernehmen.
    Er wollte zurücklaufen, die schlafende Uyarasuq aus ihrem gemütlichen Bett ziehen und dieses Erlebnis mit ihr teilen. Es würde sie verbinden, in diesem riesigen Tempel unter dem Himmel, wie keine andere Zeremonie es vermocht hätte. Aber er wusste, dass es nicht sein konnte. Deshalb ging er weiter, Augen und Ohren hellwach. Zumindest würde er dies mit sich nehmen, diesen Tag, diese Nacht, wohin er sich auch wandte. Aus diesem Grund war er wiederhergestellt, wieder ganz.
    Sleeping Bear war still, nicht zu Späßen aufgelegt wie sonst. »Rate mal, was passiert ist, junger Mann«, meinte er ohne Begeisterung. »Wir werden mit einem Hubschrauber fliegen.«
    »Tatsächlich? Wie das?«, fragte Dafydd und ließ sich eine Scheibe nattiaviniit schmecken, das Fleisch eines im vergangenen Frühjahr geborenen Seehunds. Er hatte einen unverschämten Appetit und blinzelte Uyarasuq heimlich zu. Sie lächelte und schnitt ihm eine weitere Scheibe ab.
    »Der junge Priester … nicht der anglikanische, der blöde Jesuit«, erläuterte Bear und tat so, als spucke er auf den Boden neben sich, »hat dafür gesorgt, dass die Bande Wetterleute von der Forschungsstation uns mitnimmt.«
    »Das ist nett von ihm … und von ihnen«, sagte Dafydd mit vollem Mund. »Hast du unserem Piloten abgesagt?«
    »Ja. Das wird uns ein paar Scheinchen sparen«, schloss Bear grimmig und kämpfte mit seiner eigenen Mahlzeit, die er mit seinen verwitterten Zähnen nur schwer bewältigen konnte, obwohl Uyarasuq das Fleisch für ihn in winzige Stücke geschnitten hatte. »Sie fliegen zu einem Konzert nach Yellowknife. Stell dir das vor. Was für ein Geld sie für solche Frivolitäten ausgeben müssen.« Bear wies mit dem Daumen auf Uyarasuq. »Das verdanken sie zweifellos ihren Schnitzereien. Verdammte Vielfraße.«
    Uyarasuq legte die Hand beruhigend auf Bears Schulter. »Uns geht’s ganz gut, Großvater. Müssen wir denn auf etwas verzichten?«
    Bear blickte sie mit einer Zärtlichkeit an, die Dafydd bei dem alten Mann noch nie beobachtet hatte, und tätschelte wortlos ihre Hand.
    Angutitaq tauchte aus dem Badezimmer auf und wirkte gebrechlicher denn je. Es sah aus, als hätte sich sein Rücken noch stärker gekrümmt, und seine Beine bogen sich wackelig nach außen. Vielleicht hatte er sich einen heimlichen Schluck aus Bears Medizinflasche gegönnt.
    Obwohl Dafydd bester Laune war, lag Schwermut über der Gesellschaft. Das Frühstück hatte etwas Endgültiges. Die beiden alten Männer wussten, dass dies bestimmt ihr letztes Zusammensein war. Uyarasuq hatte ihre eigenen Gründe, niedergeschlagen zu sein, und Dafydd schwebte in nie gekannten Höhen und wusste, dass er einen schrecklichen Absturz erleben würde, sobald er wieder in der harten Realität angekommen war und nach Hause zurückkehren musste. Nach Hause?
    Bear hatte recht gehabt, dass er Rat brauchte. Aber Dafydd wäre nie darauf gekommen, welche Form dieser Rat annehmen und welch tiefgreifende Wirkung er haben würde. Dass er auf unerklärliche Weise sein Herz an eine Frau verloren hatte, die er kaum kannte, stand auf einem anderen Blatt. So etwas hatte er noch nie erlebt, und er hoffte, dass alles wieder ins Lot kommen würde, wenn er diesen außergewöhnlichen Ort verließ. Er war verhext worden, wie sonst ließ sich diese ganze Erfahrung erklären?
    Eine halbe Stunde später war das Donnern des herannahenden Hubschraubers zu hören. Der Chor wild bellender Huskys mischte sich mit dem durchdringenden Lärm.
    Angutitaq klopfte Dafydd auf die Schulter. »Wenn Sie lernen, ruhig zu sein, wird der kleine Fuchs zu Ihnen kommen. Er wird Ihnen Dinge erzählen, die Ihnen niemand sonst erzählen

Weitere Kostenlose Bücher