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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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Nächste Woche werde ich sechsundzwanzig … am Mittwoch.« Nun blickte sie ihn an, kühner geworden. »Aber bis dahin werden Sie fort sein.«
    Das war es. Natürlich. Er würde fort sein. Welchen Sinn hatte ein kleiner Flirt für sie, auch wenn er harmlos war und lediglich die Zeit vertrieb? Es bestand immer die Gefahr, sich nahezukommen, sich zu sehr zu mögen. Sie konnte sich den Luxus nicht leisten, Gefühle zu investieren. An einem Ort wie diesem war man entweder fest mit jemandem verbunden, oder er verschwand wieder. Dazwischen gab es nichts.
    »Ich bin eigentlich nicht jemand, der sich bei Nacht und Nebel davonmacht«, begann er. Er wollte, dass sie ihm vertraute, aber was sonst konnte er ihr noch mitteilen? Da ihm bewusst war, dass es sich um eine Torheit handelte, verbarg er besser sein plötzliches, realitätsfernes Interesse an ihr.
    Unvermutet streckte sie die Hand aus und berührte sein Haar. »Es ist wie das Fell eines Hasenbabys«, sagte sie lächelnd, »so fein und weich …« Sie drehte seine dunklen Locken zwischen ihren Fingern.
    Dafydd ergriff ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Während er ihre Handfläche und ihr Handgelenk küsste, beobachtete er die Reaktion in ihrem Gesicht. Er wusste, dass er so etwas nicht tun sollte, es war nicht fair. Ihre Augen waren gesenkt, und nach einem Moment entzog sie sich ihm.
    »Ihres ist wie der Schweif eines Pferdes«, sagte er.
    »Was für ein Kompliment«, erwiderte sie und schlug mit einem Geschirrtuch nach ihm. »Übrigens habe ich noch nie ein Pferd gesehen. Nur auf Bildern und in Filmen. Ich weiß, dass man Matratzen aus dem Haar von Pferdeschwänzen gemacht hat … früher.«
    »Ihr Haar würde eine wundervolle Matratze ergeben«, meinte er.
    Sie schnaubte in gespieltem Abscheu, aber in ihren Augen lag ein eindeutiges Glitzern. Sie ging zurück ins Wohnzimmer und warf große Stücke knorriges Holz in den Ofen. Ihr Hinterteil sah rund und keck aus, als sie sich bei ihrer Tätigkeit bückte; ihre Beine waren recht kurz, doch wohlgeformt. Die Jeans wirkten unpassend, aber vielleicht lag das an ihm, an seinen romantischen Vorstellungen und seinen albernen Fantasien. Trotz des ungewöhnlichen Umfelds und ihrer fremdartigen Gesichtszüge war sie wahrscheinlich eine ganz und gar moderne Frau.
    Am nächsten Morgen stand er am Fenster und sah zu, wie ein Nachbar einen Seehund zerlegte. Das helle rote Blut tränkte zornig den weißen Schnee.
    »Kommen Sie«, sagte Angutitaq und klopfte mit der fachen Hand auf den Platz neben sich auf dem alten Sofa. »Sind Sie gelangweilt oder frustriert?«
    »Nicht im Geringsten. Ich genieße Ihre Gastfreundschaft sehr.«
    Bear stand auf und ging in die Küche, wo Uyarasuq das Frühstücksgeschirr abspülte. Eine lebhafte Unterhaltung entspann sich, gemischt mit heftigem Gelächter. Dafydd lauschte erstaunt und eifersüchtig. In Wirklichkeit war sie gar nicht so schüchtern. Vielleicht traute sie nach ihrem treulosen Gatten jüngeren Männern nicht. Vielleicht war es auch seine Fremdheit, die zwischen ihnen stand, oder es gefiel ihr nicht, wie er sie anschaute.
    Angutitaq musterte ihn eingehend. »Sie sind jemand, der seinen Schmerz überwinden muss, bevor er zurückkehren kann.«
    »Ich? Wie meinen Sie das?«
    »Sie werden eines Tages nach Kanada zurückkehren, wenn sich der Nebel über Ihrem Kopf verzogen hat. Sie werden zurückkehren und sich hier niederlassen.«
    »So?« Dafydd wollte den alten Mann nicht enttäuschen, aber er glaubte nicht, dass es ihn in dieses nördliche Land zurückziehen würde. Trotz seiner eindrucksvollen Schönheit und der Härten, die er zu respektieren und sogar zu genießen gelernt hatte, war er letzten Endes in der ganzjährigen Trübsal des Regens und Nebels seiner Heimat und in der dort herrschenden Sicherheit zu Hause.
    Angutitaq hustete und unterbrach damit Dafydds Gedankenfluss. Dann zeigte er mit dem Pfeifenstiel auf ihn. »Ich weiß vom quattiaq, dem Geist des Kindes, der Sie quält. Unser alter Freund hat mir erzählt, wie Sie zu dem quattiaq gekommen sind.«
    »Ich glaube, dass ich es selbst bin«, meinte Dafydd ruhig. »Ich bin derjenige, der die Qual erzeugt, und das aus sehr gutem Grund.«
    »Das auch«, stimmte ihm Angutitaq zu und nickte mehrfach. »Und die Menschen … Die Menschen müssen jemanden finden, dem sie die Schuld geben können, und es wird notwendig, ihr Leid auf sich zu nehmen und es mit sich fortzutragen, weit fort.«
    »So war es nicht«, widersprach Dafydd.

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