Zeit der Eisblueten
zu sein. Er wurde in eine behagliche Benommenheit eingelullt und merkte, wie ihn die Bewegungen von Uyarasuq fesselten. Sie sah dem Mädchen, dessen erfrorenen Körper er begutachtet hatte, erschreckend ähnlich. Das breite Gesicht, das raue schwarze Haar, die hohen Wangenknochen und die weit auseinanderstehenden, östlichen Augen.
Schließlich waren alle Gäste gekommen und gegangen. Die Stimmen der beiden alten Männer vereinten sich zu einem angenehm rhythmischen Summen, während der Rauch aus dem Holzofen das kleine Wohnzimmer in einen betörenden Schleier hüllte, als sähe er sich einen alten, körnigen Film an. Die Stille draußen war so umfassend, dass sie fast wie ein eigenständiges Geräusch wirkte – ein weißer, leerer, andauernder Ton.
Er fühlte sich derart entspannt, dass er sich sogar fragte, ob ihm die alten Knaben heimlich etwas in den Tee gekippt hatten. Oder vielleicht sie. Es war ein Luxus, die Stunden einfach dahinrinnen zu lassen, ein wenig in einem Roman zu lesen, den er mitgebracht hatte, zwischendurch immer wieder die Inuit-Frau zu beobachten und darüber nachzudenken, was sich hinter jenem exotischen, ziemlich reservierten Verhalten verbarg. Er musste es verstohlen tun, damit sie und die anderen seinen forschenden Blick nicht bemerkten.
Dafydd begann, sich Fantasien über sie hinzugeben. Er stellte sich vor, dass er sie hinter der Tür in der Küche an sich zog und sie leidenschaftlich darauf reagierte, ihre Brüste an ihn presste und ihre tintenschwarzen Augen in die seinen bohrte. In Gedanken streifte er ihr den Rock aus Karibuleder ab und zog ihr den dicken Strickpullover über den Kopf, um ihren Körper zu betrachten. Unter der unförmigen Kleidung war alles so versteckt, so verborgen. Aber als sie am dritten Tag seines Besuchs in engen Jeans und einem Sweatshirt mit der Aufschrift »Disneyland« quer über der Brust erschien und schlank und westlich aussah, war er enttäuscht.
»Sind Sie in Disneyland gewesen?«, fragte er überrascht.
Sie schüttelte kichernd den Kopf.
»Was tun Sie … wenn Sie sich nicht um Ihren Vater kümmern?« Er stand auf und folgte ihr in die Küche, um sie weiter Englisch sprechen zu hören.
»Ich bin Schnitzerin«, antwortete sie und drehte sich von ihm weg, um ein leichtes Erröten zu verbergen.
»Schnitzerin?« Dafydd ging um sie herum, damit sie ihn ansehen musste. »Was für eine Schnitzerin?«
»Steinschnitzerin. Speckstein meistens. Das ist am leichtesten. Manchmal Knochen. Unser Volk macht das. Die Hälfte von uns im Dorf verdient sich den Lebensunterhalt damit, Schnitzereien zu verkaufen.«
»Dürfte ich ein paar Ihrer Werke sehen?«
Sie trat um ihn herum zur Spüle. Er folgte ihr, lehnte sich über die Spüle und zog eine Grimasse. »Hallo, sprechen Sie mit mir.«
Sie lachte, und ihre Röte vertiefte sich. In dem durch das Fenster hereinfallenden Licht sah sie fast kindlich aus. Ihre Augen trafen sich für eine Sekunde, und angesichts der Intensität dieses Blicks schoss es ihm durch den Kopf, dass er sich in sie verliebt hatte. Das war kindisch und irrational, aber sobald er es zugab, spürte er einen wohligen Schauer. Er musste den Verstand verloren haben. Die Luft, die Stille, die plötzliche Befreiung und die Abwesenheit von Menschen wie Hogg und Sheila hatten ihn berauscht.
Er sah in Uyarasuqs unschuldiges Gesicht und wollte es in seine Hände nehmen und küssen, aber er traute sich nicht recht. Es kam ihm vor, als wäre er vierzehn; damals hatte er sich in die Tochter seines pakistanischen Nachbarn verliebt. Sie war zwölf, und ihre Schönheit stammte aus einer anderen Welt. Ihre Haare reichten bis zur Taille, und ihre Augen waren schwarz wie Höhlen. Damals war es ihm noch nicht einmal gelungen, dicht genug an das Objekt seiner jungen Liebe heranzukommen, um mit dem Mädchen sprechen zu können, aber in seinen Gedanken hatte er sie geliebt, Tag und Nacht. Die Intensität seiner Leidenschaft war so angenehm, so wunderbar gewesen, dass er nie genug davon bekommen hatte, sich ihr hinzugeben.
»Ich weiß, dass die Frage unverschämt ist … aber wie alt sind Sie?« Einen Moment lang verspürte er Schuldgefühle wegen seines erotischen Interesses an ihr. Dann erinnerte er sich daran, dass sie verheiratet gewesen war. Sie konnte nicht mehr so jung sein. Vielleicht war sie eine Kindbraut, aber keine Jungfrau.
»Ich werde es Ihnen sagen«, antwortete sie, »aber ich glaube nicht, dass es höflich ist, eine solche Frage zu stellen.
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