Zeit der Eisblueten
Er wollte nicht, dass an seiner Schuld herumgedeutet wurde. »Ich habe einen sehr schwerwiegenden Fehler gemacht, und ich muss damit leben. Ich bin weggelaufen, weil ich mich mit dem, was ich getan habe, nicht auseinandersetzen konnte. Das war der Grund, schlicht und einfach.«
Die Küchentür schloss sich, und die fröhliche Unterhaltung dahinter war nur noch dumpf zu hören. Der Holzklotz im Ofen knackte zornig.
»Natürlich. Ich kenne das selbst. Dennoch, Sie sind wie ein Torfklumpen, der das Leid aufsaugt und festhält, und sie tragen es mit sich in alle Ecken der Welt. Sie sind hier …«, Angutitaq warf seine Arme hoch, um die Weite der Arktis anzudeuten, »und Sie sind noch immer bedrückt und ziehen die Bürde hinter sich her wie einen überladenen kamotik.«
Es stimmte, das Gewicht seines Kummers zerrte geradezu an seinen Knochen. Sie saßen lange schweigend da und blickten ins Feuer. Angutitaq summte leise vor sich hin. Plötzlich klopfte er mit seinem Pfeifenstiel auf Dafydds Knie.
»Ich erkenne den quattiaq. Er scheint mir ein guter Geist zu sein. Er sieht aus wie ein kleiner Fuchs mit einer langen Nase. Aber er ist nicht zornig.« Angutitaq schaute Dafydd aufmerksam an. »Er ist ein unschuldiger Geist, aber in seinen Augen liegt sehr viel Weisheit. Wenn Sie es zulassen, könnte er Ihnen helfen.«
»NEIN«, stieß Dafydd hervor. »Begreifen Sie denn nicht? Ich bin schuld daran, dass …«
Der alte Mann hob abrupt die Hand und schloss die Augen. »Er ist hier. Ich werde ihn bitten, sich zu zeigen. Dann werden Sie nicht so viel Angst haben.«
Dafydd schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht …« Er schluckte mühsam. Das Kind, dessen Gesicht ihn in seinen Träumen heimsuchte – woher wusste der alte Mann, dass es fuchsartige Züge trug? Ihm gefiel nicht, wohin dies führte. Es erschreckte ihn.
»Unnirniaqqutit!«, rief Agutitaq.
Der Raum schien sich zu verdunkeln, als ob eine Zeitverschiebung stattgefunden hätte. Das bilde ich mir bloß ein, dachte Dafydd. Ich bin aufgewühlt, überspannt …
Dann begann der alte Mann zu singen. »Alianait, alianait, alianait …« Es war ein eindringlicher Gesang mit wenigen Tönen, vielleicht eine Beschwörung. Er hielt die Augen geschlossen und faltete seine knorrigen alten Hände über der Brust.
Dafydd fühlte sich befangen, denn er wusste nicht, ob irgendetwas von ihm erwartet wurde. Aber nach einiger Zeit wurde ihm behaglicher zumute, und er begann, Gefallen an dem Gesang zu finden. Die Geräusche aus der Küche waren verstummt, und um die Ecken des Hauses pfiff ein leichter Wind. Plötzlich verdunkelte sich der Raum erneut, als wäre die Nacht angebrochen. Dafydd fand das unheimlich, aber der Gesang hatte ihn beruhigt, und er wollte sich durch nichts ablenken lassen. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, um die Dunkelheit nicht wahrzunehmen.
Die eigenartige Melodie setzte sich fort wie eine archaische Hymne. Angutitaqs Stimme war so tief, dass Dafydd die Schwingungen an den Sohlen seiner Füße spüren konnte; sie durchdrangen ihn, stiegen in seinen Beinen hoch und füllten ihn aus. Er wollte mitsummen, fühlte sich jedoch schläfrig.
Dereks kleines Gesicht tauchte vor ihm auf. Aber es trug nicht die blassen, eingesunkenen Züge von Krankheit und Tod. Es war ein rosiges Gesicht mit strahlenden, lebendigen Augen. Dafydd lächelte. Dann bemerkte er den Fuchs in dem Gesicht, sein furchtloses Grinsen, seine lange, spitze Nase. Es waren die Schärfe und Weisheit der Augen, die Dafydd wirklich berührten, ihn mit Mut erfüllten und die Dunkelheit von ihm zogen.
Angutitaqs Stimme war nun leiser geworden und zitterte ein wenig, als hätte die Anstrengung des Singens ihm die Kraft geraubt. Dereks Gesichtszüge flimmerten, verblassten und verschwanden. Das Lied verebbte, wurde hohl – wie ein Echo, das von jenseits des schweigenden arktischen Himmels herüberklang.
Als Dafydd die Augen öffnete, befand er sich allein im Raum. Die Helligkeit draußen verwunderte ihn, und er war desorientiert. Die Asche im Ofen glühte noch, aber im Haus war alles still. Niemand schien da zu sein. Sein Körper war steif und sein Kopf schwer. Er stand auf und streckte sich. Dann gähnte er, bis die Kiefer knackten. Plötzlich verspürte er einen ungeheuren Durst, als hätte er sich durch eine Wüste geschleppt. Seine Zunge fühlte sich geschwollen an.
Er ging in das kleine Badezimmer. Da es kein Fenster hatte, zündete er ein Streichholz an, um die qulliq anzumachen,
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