Zeit der Hingabe
auf. Eine junge Dame, auch wenn ihr Ruf ruiniert war, sprach nicht unangemeldet im Haus eines Gentlemans vor. „Ist Seine Lordschaft zu Hause? Sagen Sie ihm bitte, … eine Dame wünscht ihn zu sprechen!“ Sie hätte wenigstens einen Hut mit Schleier tragen müssen, überlegte sie reichlich spät. Sie war zu wütend und unbedacht aus dem Haus gestürmt.
Einen bangen Moment lang fürchtete sie, der Livrierte würde sie auf den Stufen stehen lassen, doch dann öffnete er die Tür weit und lud sie mit einer Verbeugung ein, einzutreten. „Ich bin Leopold, Lady Miranda, Lord Rochdales Majordomus. Er unterrichtete mich davon, Sie eines Tages zu erwarten. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Ich erkundige mich, ob Seine Lordschaft Sie empfängt. Er erhebt sich gewöhnlich erst um die Mittagsstunde.“
Wie peinlich, dachte sie, während sie der hohen, schwarz gekleideten Gestalt des Butlers durch einen düsteren Korridor folgte. Die Vorstellung, Lucien schlafe in weißen Seidenkissen, machte sie irgendwie beklommen.
Und wieso war der Butler von ihrem Besuch unterrichtet? Wieso kannte er ihren Namen? Der Salon, in den er sie führte, war dunkel und kalt, die Fenster waren mit schwarzem Samt verhangen, im Kamin brannte kein Feuer. Die Einrichtung war karg und unbehaglich. Sie war froh, dass niemand ihr Mantel und Handschuhe abgenommen hatte, sonst hätte sie nur noch mehr gefroren.
Sie wartete eine Ewigkeit, wie ihr schien. Wie lange, wusste sie nicht, da sie in dem halbdunklen Zimmer keine Uhr entdecken konnte. Endlich legte sich ihr Zorn und wich Unschlüssigkeit und Beklemmung, die sie jedoch energisch verdrängte. Sie war lediglich gekommen, um sich Klarheit zu verschaffen und herauszufinden, welche Einwände ihre Familie gegen den Earl hatte, und dann würde sie Brandon gehörig den Kopf waschen.
Schließlich waren die Rohans keineswegs der Inbegriff der Rechtschaffenheit. Ihre liebevolle, wenn auch strenge Mutter hatte zwar dafür gesorgt, dass ihre Söhne keinen lasterhaften Vergnügungen nachgingen, wie sie im Satanischen Bund geboten wurden, aber sie zeigte auch Verständnis dafür, dass junge Männer gelegentlich über die Stränge schlugen. Miranda kannte die schockierende Wahrheit. Ihr eigener geliebter Vater und dessen Vater waren aktive Mitglieder in diesem verrufenen Geheimbund. Und ihr Vater hatte immer wieder betont, dass sein Wissen um das sündige Treiben dieser Bruderschaft ihm alle guten Gründe lieferte, seine Söhne davon fernzuhalten.
Dennoch entsann Miranda sich gelegentlicher familiärer Skandale. Benedick war in seiner Jugend mit einer Dame von labiler Gemütsverfassung verlobt gewesen, die ihn während einer Abendgesellschaft mit der Pistole bedroht hatte, sich später zunehmend seltsam benommen hatte, schließlich in geistige Umnachtung verfallen war und vermutlich in einer Anstalt gelandet wäre, wäre sie nicht früh verstorben.
Der wortkarge Charles hatte eine unselige Neigung zu Balletttänzerinnen gehabt, bis er sich endlich in Kitty Marsden verliebt hatte, die erstaunlich bodenständige Tochter eines Landedelmannes.
Und Brandon, der Jüngste, tat sein Bestes, um die Familientradition weiterzuführen. Kein Wunder, dass ihre Brüder ihr den ersten Fehltritt bedenkenlos verziehen hatten.
Die Rohans waren keine kleingeistigen Moralapostel. Wieso also machten sie ein solches Theater um eine harmlose Freundschaft mit einem Mann von schlechtem Ruf? Es ergab keinen Sinn.
Miranda wanderte ruhelos in dem kleinen Salon auf und ab, schob den schweren Vorhang ein wenig beiseite, spähte aus dem Fenster auf die Stallungen und nahm ihre Wanderung wieder auf. Wo blieb Lucien nur so lange?
Schließlich setzte sie sich auf das unbequeme harte Sofa. Wäre es wärmer gewesen, wäre sie wohl eingenickt. So aber zog sie ihren Umhang enger um die Schultern im vergeblichen Versuch, sich warm zu halten. Sie befürchtete bereits, der Butler habe sie vergessen oder missbilligte den Besuch einer Dame bei seinem Herrn so sehr, dass er ihr eine Lehre erteilen wollte. Zugegeben, ein weit hergeholter Verdacht, aber Dienstboten konnten bisweilen penibler sein als ihre Herrschaft. Andererseits hatte das baumlange Klappergestell beinahe verlegen gewirkt, als es sie in diesen trostlosen Raum geführt hatte.
Sie war schon im Begriff, alle Hoffnung fahren zu lassen und zu gehen, als der traurige Butler wieder erschien. „Seine Lordschaft ist bereit, Sie zu empfangen“, verkündete er mit deutlich tadelndem Unterton,
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