Zeit der Hingabe
er erreichen wollte: sie zu verstören, sie zu brechen, wenn nicht körperlich, dann seelisch und geistig. Eine passende Vergeltung für seine geistesgestörte Schwester, von der Miranda so gut wie nichts wusste.
Und mit einer plötzlichen Erleuchtung erkannte sie ihre Chance. Wenn sie sich von ihm einschüchtern ließ, vor ihm im Staub kroch wie ein Wurm, garantierte sie ihm den Sieg.
Oder sie ließ sich auf sein böses Spiel ein. Sie hatte die gesellschaftliche Ächtung ertragen und ein zufriedenes Leben geführt. Sie hatte eine gewaltsame Entführung mit innerer Kraft und Ruhe überstanden. Ihr fehlte die Zartheit und Zerbrechlichkeit der meisten jungen Frauen. Sie war praktisch veranlagt, anpassungsfähig und sah keinen Sinn darin, ihr eigenes Schicksal zu beklagen.
Sie warf einen Blick zu Jane hinüber, die er als Unterpfand mitgenommen hatte, um zu garantieren, dass Miranda keinen Fluchtversuch unternahm. „Ehrlich gestanden“, sagte sie im Plauderton, „freue ich mich, dass Jane bei mir ist, zumal sie nicht ernstlich krank zu sein scheint. Ihre Gesellschaft macht mir die Situation wesentlich erträglicher.“
Sie spürte, wie er sich neben ihr anspannte. „Keine unbedingt menschenfreundliche Einstellung“, wandte er ein. „Haben Sie keine Bedenken, dass sie sich ängstigt und sich Sorgen macht, was ihre Eltern über diesen Ausflug denken?“
„In meiner Obhut ist sie gut aufgehoben. Ihre Eltern vertrauen mir, dass ich für ihre Sicherheit sorge. Wir haben schon einige Eskapaden gemeinsam erlebt, und ich habe immer auf sie aufgepasst.“ Sie lächelte über sein spürbares Unbehagen. „Ich passe auch diesmal auf sie auf und bin froh, dass sie mir Gesellschaft leistet. Es war sehr freundlich von Ihnen, Jane mitzunehmen.“
„Das geschah keineswegs aus Freundlichkeit“, erwiderte er schroff. Dann atmete er tief durch und fuhr gelassen fort: „Aber bitte, wenn ich Ihnen damit einen Gefallen getan habe.“ Er schwieg eine Weile, und Miranda wartete atemlos, ob ihr Trick gelungen war.
Er entspannte sich wieder. Seltsam, wie leicht es ihr gelang, seine Reaktionen zu deuten. „Allerdings fürchte ich, dass Miss Pagett uns nicht mehr lange begleiten wird. Ich habe bereits Vorkehrungen getroffen, sie nach London begleiten zu lassen. Sie wird uns in der nächsten Ortschaft verlassen. Aber ich halte es für klüger, wenn Sie nicht wissen, wohin wir fahren. Es soll eine Überraschung sein.“
Miranda ließ die Schultern fallen in überzeugend gespielter Enttäuschung. Sie hatte es geschafft. Ihr erster Versuch, ihn zu überlisten, war gelungen. Jane würde wohlbehalten zurückkehren.
Danach musste sie sich nur noch um sich selbst kümmern. Und Miranda wusste genau, wie sie vorgehen würde.
Sie kuschelte sich an seine Seite, lehnte die Wange an seine Schulter. Er roch angenehm nach Leder und feinem Tuch, Nelken und warmer Männerhaut. Die Schlacht hatte begonnen. Augenscheinlich war sie doch nicht völlig wehrlos.
Der Morgen graute, als die Pferde erneut gewechselt wurden. Miranda spähte aus dem Fenster, um sich zu orientieren. Die Poststation gab ihr keinen Aufschluss. Es gab unzählige Dorfgasthöfe mit dem Namen Cock and Swallow in England. Die Landschaft gab ihr auch keinen Hinweis. Durch den Morgennebel glaubte sie in der Ferne einen Hügelzug zu erkennen, es könnte sich um die Pennines handeln, die England etwa in der Mitte von Süden nach Norden durchzogen. Sie hielt die Nase in die Morgenluft, ob sie salzige Meerluft erschnuppern konnte, nahm aber nur den Geruch nach Erde und Feuchtigkeit wahr.
Jane schälte sich gähnend aus ihrer Decke und schaute sich verschlafen um. „Hast du eine Ahnung, wo wir uns befinden?“, fragte sie bang. „Meine Eltern werden in höchstem Aufruhr sein.“
„Lord Rochdale hat deinen Eltern eine Nachricht zukommen lassen, um sie zu beruhigen. Und bald bist du wieder wohlbehalten zu Hause. Vermutlich wird man dir Vorhaltungen machen, aber wie ich deine Eltern kenne, werden sie dir nicht lange böse sein.“
Jane lächelte zaghaft. „Aber was passiert, wenn sie das hier sehen?“ Sie hatte ihren Handschuh abgestreift, und der kostbare Diamant funkelte im dämmrigen Licht der Kutsche.
„Kannst du ihn noch immer nicht abziehen?“
Jane zerrte erneut daran, aber der Ring schien wie angewachsen. „Ich hatte gehofft, wenn ich einen Tag nichts esse, werde ich ihn los, aber es nützt nichts.“ Sie hob ihre rechte Hand, wo Bothwells dünner Ring steckte.
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