Zeit der Hingabe
versuchte unmerklich, von ihm abzurücken in der Annahme, er schlafe tief und fest. Aber sein knapper Befehl „Bleiben Sie!“ belehrte sie eines Besseren.
„Ich will mich ein wenig strecken“, flüsterte sie, „und nach Jane sehen.“
Er nahm seinen Arm von ihr, aber sie machte sich keine Illusionen – er würde ihr nur eine kurze Pause gönnen.
Sie beugte sich über Jane, die unter der Pelzdecke in einer Ecke kauerte. Um sie nicht zu wecken, legte sie ihr vorsichtig die Hand an die Stirn, die sich zu ihrer Erleichterung trotz des Schnupfens kühl anfühlte.
Unwillkürlich flog Mirandas Blick zum Türgriff. Aber sie durfte Jane nicht alleine lassen. Im Übrigen fuhr der Wagen zu schnell, um einen Sprung in die Freiheit zu wagen. Resigniert setzte sie sich wieder und ergab sich ihrem Schicksal. Wenigstens vorübergehend.
„Warum nehme ich wohl Ihre Freundin mit, statt sie unverzüglich zurückzuschicken?“ Der Earl sprach gedämpft, um Jane nicht zu wecken, und beantwortete seine Frage selbst. „Weil Sie keinen Fluchtversuch wagen, solange sie bei uns ist. Ich bin mir durchaus bewusst, dass Ihre Familien einander sehr nahestehen, und könnte mich mit Ihrer Freundin begnügen, falls Sie dennoch fliehen. Zur Not könnte ich meinen Rachedurst auch an ihr stillen.“
„Wenn Sie Jane anfassen, bringe ich Sie um“, fauchte Miranda hasserfüllt.
Er lachte. „Ich ziehe es vor, Sie anzufassen, Teuerste. Aber ich bin ein praktisch denkender Mann und schrecke vor nichts zurück, um mein Ziel zu erreichen. Sie ahnen nicht, wie rücksichtslos ich sein kann. Zwingen Sie mich nicht, es Ihnen zu beweisen.“
Vermutlich konnte er den Hass in ihren Augen nicht sehen. Sie musste sich in Geduld üben. Wie hieß es doch? Rache sollte man am besten kalt servieren. Wenn sie sich von ihrem Zorn hinreißen ließ, wäre sie verloren. Sie musste kühl und überlegt handeln, wenn sie ihn besiegen wollte.
Nein, dachte sie, den Skorpion zu besiegen, wäre ihr wohl nicht möglich. Sie musste Fassung bewahren, um nicht alles noch schlimmer zu machen.
Wieso hatte sie ihn im Traum als ihren Retter gesehen? Den Retter vor Christopher St. Johns Zudringlichkeiten? War sie noch bei Sinnen? Der Kuss des Earls, seine streichelnden Hände hatten höchst unliebsame Erinnerungen an Christoper in ihr wachgerufen. Dieses Grauen hatte sie überlebt, nur eine abgrundtiefe Abneigung gegen den intimen Akt zwischen Mann und Frau war geblieben … und an dieses Ding, das sie nicht einmal benennen wollte.
Und warum hatte Lucien die Wette gewonnen? Wieso hatte sie die Arme um seinen Hals geschlungen und seinen Kuss erwidert? Wieso hatte ihr Körper, die geheimsten Stellen ihrer Weiblichkeit, sie so schmachvoll unter dem Spiel seiner Finger verraten?
Er war noch heimtückischer, als sie vermutet hatte. Er war kein Skorpion; er war eine Schlange, ein heimtückische Giftschlange.
„Und welche entzückenden Gedanken gehen Ihnen durch den Sinn, Verehrteste?“, murmelte er und zog sie enger an sich, und sie ließ es geschehen. „Freuen Sie sich auf unsere Hochzeitsnacht?“
Sie ließ ihn den Schauder spüren, der sie durchrann, doch er lachte nur. „Nein. Ich dachte daran, dass Sie eher einer Giftschlange gleichen als einem Skorpion.“
„Dann wissen Sie sehr wenig über Skorpione, meine Liebe. Das Gift eines Skorpions ist absolut tödlich. Er scheut das Tageslicht und sticht zu, bevor sein Opfer weiß, wie ihm geschieht.“
„Nennt man Sie deshalb Skorpion, weil Sie ein Giftmischer sind?“
„Zugegeben, ich würde auch vor einem Giftmord nicht zurückschrecken. Aber der Name stammt von einem dieser Tierchen, das ich aus Jamaika nach England mitgebracht habe. Ich hielt es als Haustier, und meine Reisebegleitung pflegte mich liebevoll Skorpion zu nennen.“
„Zweifellos weiblich.“
„Der Skorpion? Ja. Die Reisebegleitung nicht. Er war ein Freund.“
„Und wo befindet sich Ihr tödliches Haustierchen? Haben Sie vor, es auf mich loszulassen?“
„Leider ist Desdemona verstorben. Ich übernachtete in einem Gasthof nahe Paris, und sie entschlüpfte mir. Der Gastwirt geriet in Panik und zertrat sie.“ Er klang kühl und sachlich, aber Miranda ließ sich nicht beirren.
„Und wie ist es dem Gastwirt ergangen?“
„Er hatte einen tödlichen Unfall. Durch meinen Degen.“
Sie erschauerte. Auch diesmal spürte er zweifellos ihre Reaktion, sagte aber nichts, genoss es augenscheinlich, ihr Angst eingejagt zu haben. Das war genau das, was
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