Zeit der Hingabe
trank eine Tasse Tee. Sie fühlte sich beklommen, ohne zu wissen warum, denn die Kutsche mit ihrer Reisebegleiterin müsste jeden Moment vorfahren. Bald wäre sie wieder wohlbehalten zu Hause, bevor Mr Bothwell überhaupt bemerkte, dass sie London verlassen hatte.
Nicht dass sie das sonderlich interessierte. Sie hoffte lediglich, den Mut aufzubringen, die Verlobung zu lösen, die ihr mittlerweile wie ein Todesurteil erschien.
Aber wer weiß? Wenn erst einmal der Alltag wieder eingekehrt war, würde sie sich besinnen. Wenn sie ihn heiratete, würde sie Kinder und ein eigenes Haus haben und an seiner Seite ein beschauliches Leben führen.
Sie wollte nicht länger darüber nachdenken und sich lieber mit Miranda und ihrem Zukünftigen befassen. Irgendetwas stimmt zwischen den beiden nicht, überlegte sie, ohne zu ahnen, was es sein könnte. Sie zweifelte nicht daran, dass Miranda in Lucien de Malheur verliebt war, aber irgendetwas bedrückte sie. Was nun den Earl betraf, so erschien er ihr rätselhaft und schwer zu durchschauen. Hätte er Miranda nicht ständig mit Blicken verfolgt, hätte sie sich geweigert, die Freundin zu verlassen.
Aber was hätte sie damit schon erreicht? Jane starrte nachdenklich ins Feuer und wartete bangen Herzens auf ihre Kutsche. Lucien de Malheur machte ihr nicht den Eindruck eines Mannes, der ihre Weigerung akzeptiert hätte, genauso wenig wie Miranda eine Frau war, die sich gehorsam dem Willen eines Manns fügte. Die beiden würden eine leidenschaftliche Ehe führen. Voller Abenteuer und beseligendem Glück. Und ich habe Mr Bothwell, dachte Jane tief betrübt.
Sie zog ihr zerknülltes Taschentuch aus dem Ärmel und betupfte sich Augen und Nase. Der Gedanke, wieder stundenlang in einer holprigen Kutsche sitzen zu müssen, machte sie noch unglücklicher. Seit sie der Karosse des Earls wehmütig nachgewinkt hatte, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Bei ihrem nächsten Wiedersehen wäre Miranda glücklich verheiratet. Und Jane hatte keinen Zweifel daran, dass Mr Bothwell nur einen Blick auf den riesigen Diamanten an ihrem Finger werfen musste, um sie augenblicklich zu verstoßen. Dann wäre ihr Ruf ruiniert. Vielleicht könnte sie in Mirandas leer stehendes Haus in der Half Moon Street einziehen und eine schrullige alte Jungfer werden.
Das wäre ihre einzige Hoffnung. Andererseits war sie unschlüssig, ob sie den Ring wirklich loswerden wollte. Ohne dieses Schandmal hätte Mr Bothwell jedes Recht, sie mit lieblosen trockenen Küssen zu traktieren. Er würde fortfahren, Kritik an ihren Kleidern und ihrem Benehmen zu üben. Und wenn er ihr Kinder schenkte, würde er mit Sicherheit seine strengen Prinzipien zur Kindererziehung durchsetzen, die sie für verfehlt erachtete und gründlich verabscheute.
Sie hatte die Wahl zwischen zwei trostlosen Möglichkeiten: das Leben einer gesellschaftlich Geächteten zu führen oder das Leben als Mrs George Bothwell. Kein Wunder, dass der Diamantring sich nicht abziehen ließ.
Sie betupfte sich wieder die Augen, wusste nicht, ob sie vor Selbstmitleid weinte oder um Miranda, die so unvermutet als Braut aus ihrem Leben verschwunden war. Sie wusste nur, dass sie tieftraurig war und ihre Tränen nur heftiger flossen, gegen die ihr durchnässtes Taschentuch nichts mehr ausrichten konnte.
Vor dem Tränenschleier ihrer Augen erschien ein schneeweißes unberührtes Taschentuch, das sie dankbar entgegennahm, sich die Nase putzte und die nassen Wangen betupfte, ehe sie den Blick hob. Und erstarrte.
Vor ihr stand ein Diener des Earls, wie sie an der schwarzen Livree erkannte. Allerdings war er sehr hochgewachsen für einen Mann, der mit Pferden arbeitete. Pferdepfleger waren in der Regel untersetzt und muskulös, um nicht zu schwer im Sattel zu sitzen.
Bevor sie etwas sagen konnte, trat der Mann in den Schatten zurück, und eine stattliche Frau in schwarzem Kleid und dunkelblauem Tuch um die Schultern näherte sich ihr. „Guten Morgen, Miss Pagett. Ich bin Mrs Grudge. Seine Lordschaft hat mich beauftragt, Sie nach Hause zu begleiten. Jacobs und ich werden uns bemühen, Ihnen die Reise möglichst angenehm und kurzweilig zu gestalten.“
Jane verrenkte sich beinahe den Hals, um zu sehen, wo der Fremde geblieben war, der ihr das Taschentuch gereicht hatte, aber er war verschwunden. „Wer war das?“, sprudelte sie unbedacht hervor.
Mrs Grudge lächelte freundlich. „Jacobs, unser Kutscher. Ein ansehnlicher Bursche, wie? Alle Mädchen sind verrückt
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