Zeit der Hingabe
Tageslicht und gottlob allein. Lucien war nach dem letzten Pferdewechsel nicht mehr zu ihr in die Kutsche gestiegen. Die Karosse rollte durch karges Hügelland, und Miranda versuchte, sich ihre Geografiekenntnisse ins Gedächtnis zu rufen. Dies könnten die karstigen Hügel von Yorkshire sein, oder die felsige Landschaft von Northern Wales. Sie wusste nur mit Sicherheit, dass ihre Reise nach Norden führte. Wäre die Fahrt nach Süden gegangen, hätten sie längst das Meer erreicht. Sie wünschte, abschätzen zu können, wie weit im Norden sie sich befanden, aber die Karosse fuhr zu schnell, um auch nur zu ahnen, welche Strecke sie bereits zurückgelegt hatten.
Die Sonne trat gelegentlich hinter den dunklen, unheilvollen Wolken hervor, die rasch über den Himmel zogen. Der Skorpion hatte offenbar auch dem Wetter befohlen, sich seinen niederträchtigen Plänen unterzuordnen. Und sie fragte sich wohl zum hundertsten Mal, wozu dieser Unhold noch fähig wäre.
Er hatte sie gezwungen, ihn zu begleiten. Sie, die dumme Gans, hatte in ihrem Leichtsinn Brandon nicht geglaubt, der sie gewarnt hatte. Der Skorpion hatte gedroht, ihren Bruder kaltblütig zu töten, und sie durfte Brandons Leben nicht aufs Spiel setzen, indem sie davon ausginge, Lucien würde nur bluffen. Nein, dieser Unmensch war wild entschlossen, den frühen Tod seiner Schwester zu rächen, daran konnte es keinen Zweifel geben.
Aber was hatte er mit ihr vor? Keine Vergewaltigung, keinen Mord, keine körperliche Züchtigung. Sein grausamer Plan bestand darin, sie zu heiraten. Nicht gerade der Stoff für eine haarsträubende Schauergeschichte.
Nein, er war kein Richard der Dritte, so sehr er sich auch bemühte, so zu wirken. Doch er hatte sie ziemlich treffend eingeschätzt. Sie war nicht der Typ Frau, der sich zitternd in die Ecke der Kutsche verkroch und ihr Schicksal beweinte. Wahrscheinlicher würde sie bei Nacht und Nebel die Flucht ergreifen, sich in Männerkleidern durch die gefährlichen Wälder schlagen und ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen.
Im Moment allerdings war ihr eher nach Weinen zumute, weil ihr alle Glieder wehtaten von der endlos langen Fahrt. Die Reisen mit ihrer Familie verliefen stets wesentlich gemächlicher, mit ausgedehnten Pausen, um warme Mahlzeiten zu sich zu nehmen, kurze Spaziergänge zu machen, um die verkrampften Muskeln zu lockern. Auf längeren Reisen verbrachte man die Nacht in einem gepflegten Landgasthof oder bei Freunden und setzte sich nicht den Gefahren eines nächtlichen Überfalls durch Wegelagerer aus. Miranda fühlte sich so zerschlagen, als wäre sie tagelang in einer engen Holzkiste eingesperrt gewesen.
Mittlerweile hatte die Sonne sich vollends hinter graue Wolken verzogen. Nebelschwaden hüllten den Wagen ein und ließen die Landschaft noch düsterer erscheinen. Auf der anderen Sitzbank stand ein Korb mit Reiseproviant, den Miranda bislang standhaft ignoriert hatte. Doch nun forderte der Hunger seinen Tribut. Sie hob den Deckel und entdeckte frisches Brot, Käse, Apfelkuchen und eine Flasche Wein.
Sie griff zu, ließ es sich schmecken und trank Wein, mehr als je zuvor, und spürte, wie er ihr zu Kopf stieg, was sie nicht weiter störte. Mit einem leichten Schwips würde sie aufhören zu grübeln und wieder eindösen, bis diese endlos lange Fahrt …
Der Wagen kam erneut zum Stehen. Diesmal würde sie aussteigen, ob ihm das passte oder nicht … vorausgesetzt, sie konnte gerade gehen.
Der Wagenschlag wurde aufgerissen, Lucien stand im Nieselregen, als könne ihm das schlechte Wetter nichts anhaben. „Wir sind angekommen“, verkündete er mit leisem Spott. „Willkommen in Ihrem neuen Heim.“
Gewiss erwartete er von ihr Zorn und Verzweiflung. Aber Miranda hatte sich fest vorgenommen, genau das Gegenteil von dem zu tun, was er von ihr erwartete. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und nahm seine Hand, wobei ihr seine verdutzte Miene nicht entging. „Wie entzückend. Ich fürchte, ich habe etwas zu viel Wein getrunken. Ich konnte ja nicht ahnen, dass wir unserem Ziel so nahe sind.“ Auf seinen Arm gestützt kletterte sie etwas unsicher aus der Kutsche, warf einen ersten Blick auf ein düsteres Gebäude, das ihr neues Heim sein sollte, und wünschte prompt, sie hätte die Flasche völlig geleert.
Riesig, grau, abweisend. Kein einziger Lichtschein hinter einem der unzähligen dunklen Fenster. Eine ungepflegte, mit Unkraut überwucherte Kiesauffahrt. Zu allem Übel peitschte ihr ein kalter
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