Zeit der Idioten
meine Augen wie ein Vorhang legen, sehe ich den Himmel und ein paar Sterne. Vielleicht ist das
der
Himmel, das Paradies. Vielleicht ist das das Ziel meiner Reise, meines kurzen und bedeutungslosen Lebens.
Ich weiß, es heißt, wenn ich dieses und jenes nicht erlebt hätte, wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin. Und es heißt auch, es gibt keinen Zufall. Aber das alles ist jetzt nicht von Belang. Die Philosophen und Dichter können alle einpacken. Was ist schon ein Gedanke, was ein Gedicht, verglichen mit jetzt, mit dir, Andrea, mit diesem Moment? So möchte ich verweilen. Ich möchte deine Haare zählen, Andrea. Ich glaube, sie mögen meinen Atem, denn ihre Reaktion ist reinstes Ballett. Da sind ein paar Schuppen, aber das ist Schnee an einem Maimorgen. Er fällt in deinen Nacken, den Ort der Unschuld, der sich deinen Augen und deiner Eitelkeit entzieht und mit seinem zarten Flaum, einem Relikt aus Mädchentagen, dem Alterungsprozess trotzt und in seinem Versteck der allmächtigen Zeit eins auswischt. Die Erde bebt unter mir. Nein, das sind wir beide. Du löst deine Umarmung ein bisschen und schaust mich an. In deinen Augen sehe ich mich. In deinem Mund schmecke ich Einheit. Alles ist eins, es gibt nur dich und mich, oder? Nur dich und mich. Das ist doch so? Ich fühle dein Ohr und frage mich, wie du hörst. Ich will Musik mit deinen Ohren hören. Ich spüre dein Herz schlagen. Dieser Moment ist perfekt. Er hat nichts mit Zeit zu tun. Oder aber genauso viel wie die Ewigkeit. Aber der Moment, in dem er mir bewusst wird, ist schon der nächste. Jessas, die Gegenwart! Ich will sie nicht.
Ich höre Snakes Schritte, dann den Türknauf. Scheiße, der kommt raus! Andrea hält die Luft an. Ich auch. Nach ungefähr fünfzehn ewigen Sekunden geht er wieder ins Haus zurück. Wir lösen uns voneinander, ziehen uns schnell an und hauen ab. In die Dunkelheit.
»Alles in Ordnung, Cornelius?«, fragt sie.
»Jaja, danke. Alles in Ordnung. Tut mir leid, ich –«
Sie hält ihren Zeigefinger an meine Lippen.
»Mir tut’s leid. Ich hätte das nicht tun sollen, Cornelius. Es tut mir so leid, dass ich dich missbraucht habe, gerade dich.«
»Ach, hör schon auf.«
»Hab ich jetzt alles zwischen uns zerstört?«
»Nein, hast du nicht, Jessas. Ich … ich hab halt schon so lange nicht …«
»Sag das nicht. Es ist gut so.«
»Bist du sicher?«
Sie nickt und gibt mir einen Kuss auf die Wange, drückt meine Hand und zerrt mich in das Feld hinter Snakes Haus. Da sitzen wir jetzt, Händchen haltend und verstohlen, wie zwei Teenager.
»Ich hätte mir dich schnappen sollen damals,« sagt sie, »aber du warst ja noch fast ein Kind. Weißt du, wenn ich ehrlich bin, macht es mir gar nicht so viel aus, wenn ich Bob verlieren sollte. Er ist ein guter Kerl, aber ich fürchte, wenn die Kinder einmal draußen sind, werden wir uns nichts mehr zu sagen haben. Eigentlich haben wir uns jetzt schon nichts mehr zu sagen – was heißt
jetzt
, schon lange nicht mehr. Aber weißt du, die Kinder sind halt der Klebstoff in so einer Elternbeziehung.« Sie klingt nicht sehr überzeugt von dem, was sie sagt, aber ich lasse sie reden.
»Wie geht’s den Kindern?«
»Ganz gut. Bis auf den Kleinen. Der kann das überhaupt nicht verstehen, dass der Papa jetzt in der Arbeit wohnt. Danke, dass du fragst. Bist du auch in diese Johanna verliebt, Cornelius?«
»Keine Ahnung. Nein, ich glaube nicht.«
»Ist die so toll oder was?«
»Nein. Ja, sie ist nett und intelligent …«
»Ich dachte, das wäre ich auch …«
»Bist du ja auch.«
»Aber warum? Sie ist jung, stimmt’s?«
»Ja. Also ja, schon, aber was soll’s, sie ist auch nur ein Idiot.«
»Warum machen Männer das?«
»Keine Ahnung. Machen das nur Männer?«
»Keine Ahnung.«
Da habt ihr’s, wir haben keine Ahnung. Schön langsam nervt das. Wie alt muss man eigentlich werden, um endlich eine Ahnung von den Dingen zu bekommen?
»Ich werde ihn nicht wieder nach Hause kommen lassen. Hörst du, Cornelius? Und wenn er morgen weinend an meine Tür klopft. Ich werde meine Zeichen richtig deuten. Ich werde alles schaffen. Ich brauche ihn nicht, diesen Arsch …«
Aber dann weint sie wieder. Ich halte sie fest und lasse sie weinen, ohne beruhigende Phrasen zu dreschen, so wie ich das mit Sarah immer mache. Und es funktioniert auch mit Andrea. Sie beruhigt sich.
Es ist, wenn auch tragisch, ein schönes Gefühl. Wenn ich ehrlich bin, ein Moment, den ich mir immer gewünscht habe, natürlich ohne all
Weitere Kostenlose Bücher