Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Mädchen dann nicht vom Hals geschafft, bevor sie nach London gegangen ist?«
Hamish hatte recht, sagte er sich. Eifersucht führte zu Verbrechen aus Leidenschaft, die impulsiv und voller Zorn begangen wurden.
»Möglicherweise waren ihr zu dem Zeitpunkt die Hände gebunden. Vielleicht musste sie befürchten, wenn sie Emma etwas antut, würde der Mann sich denken können, wer dafür verantwortlich war, und sie ein zweites Mal zurückweisen. Aber nach seinem Tod stand es ihr frei, nach Hause zu gehen und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wut und Vorwürfe gehören nun mal zur Trauer.«
Hamish ließ sich nicht überzeugen. »Sie könnte doch auch nach London gereist sein, um die Dinge mit ihm wieder ins Lot zu bringen, bevor er nach Frankreich gegangen ist.«
Und sie war nach London gegangen, nachdem ihr Vater gestorben war. Vielleicht hätte er es nicht gutgeheißen, dass sie einem Mann nachlief, ganz gleich, wem, wenn ihre Aussichten so gering waren. Aber dann wäre es nicht nötig gewesen, Emma zu töten. Es sei denn, Grace Letteridge hatte in London gewartet, bis der Mann Heimaturlaub bekam, um dann zu entdecken, dass er sich nur die Zeit vertrieb, bis Emma volljährig war und es ihr freistand zu heiraten, wen sie wollte. Das wäre ein fürchterlicher Schlag für sie gewesen, vor allem, wenn er kurz nach ihrer Begegnung mit ihm gestorben wäre und sie mit einer trostlosen Zukunft zurückgelassen hätte.
Wenn einer der beiden Fälle zutraf, hätte Grace Letteridge trotz all ihrer dramatischen Äußerungen keinen Grund gehabt, zu Pfeil und Bogen zu greifen, um Hensley zu erschießen. Sie kannte die Wahrheit.
»Oder sie wollte ihr eigenes Verbrechen vertuschen«, sagte Rutledge laut, als die verkehrsreiche Straße erst durch ein Gewerbegebiet führte und dann ins offene Land hinaus. »Vor allem, wenn Hensley ihr zu dicht auf den Fersen war, weil er immer wieder das Wäldchen durchsucht hat. Warum weigert er sich, das zuzugeben?«
Rutledge wusste besser als die meisten anderen Menschen, wie sehr Eifersucht an der Seele nagen konnte. Er hatte es bei den Ermittlungen zu mehr als einem Mordfall gesehen und er hatte es am eigenen Leibe gespürt, als Jean ihn sitzen gelassen hatte, um einen Diplomaten zu heiraten, der kurz darauf einen Posten in Kanada einnehmen sollte. Sie war so endgültig aus seinem Leben verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
»Sie würde sich nicht dazu herablassen, einen Mord zu begehen«, sagte Hamish noch einmal zu Grace Letteridges Verteidigung. »Sie wäre fortgegangen und hätte nicht zurückgeblickt.«
Und Hensley schien seine eigenen Probleme mit dem Mann gehabt zu haben, dem Emma Mason angeblich ihre Gunst gewährte.
Rutledge hielt vor dem Oaks an, als er die Abzweigung erreichte, die nach Dudlington führte. Im Wirtshaus brannte kein Licht, und es standen auch keine Automobile davor. Er ging an die Tür und wollte anklopfen, doch dann überlegte er es sich anders.
Keating konnte aus jedem beliebigen Fenster schauen, um zu sehen, wer vor seiner Tür stand. Und wenn er Rutledge dort stehen sah, würde er sich gar nicht erst die Mühe machen, an die Tür zu kommen.
Rutledge hatte nicht vor, ihm diese Genugtuung zu gönnen.
In jener Nacht schlief er nicht gut, und als die Kirchturmuhr zwei geschlagen hatte, stand er auf und trat ans Fenster.
Dudlington lag still im gleißenden Mondschein, der die kalten Dächer in sein silbriges Licht tauchte. Die Straßen waren menschenleer und in keinem Haus brannte Licht.
Doch während er noch aus dem Fenster sah, ging in Emma Masons Schlafzimmer Licht an, und er griff ohne jeden Gedanken nach dem Feldstecher.
Das Zimmer schien vor seinen Augen zu erstrahlen, und er konnte einen menschlichen Schatten sehen, den das Lampenlicht
auf die hintere Wand warf. Es war schwer zu sagen, wer das Zimmer betreten hatte. Die Lampe war näher an der Tür als am Fenster und von dort aus, wo Rutledge stand, war nur der Schatten zu sehen.
»Die Großmutter«, sagte Hamish.
»Sie hört nicht gut. Jeder könnte sich in das Haus hineinschleichen, wenn er feststellt, dass die Tür unverschlossen ist.«
Die Lampe brannte eine Viertelstunde und wurde dann ausgeschaltet. Fast im selben Moment war Rutledge bereits auf der Treppe und lief die Stufen schnell hinunter und in Hensleys Büro. Von dort aus konnte er jeden, der zur Tür herauskommen würde, klar und deutlich sehen. Aber obwohl er Mrs. Ellisons Haus fast zehn Minuten lang
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