Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Wäldchen von hier aus so klar zu sehen ist, dann nehme ich an, dass man es auch vom Nachbarhaus aus sehen kann. Ist dir aufgefallen, dass das oberste Stockwerk dort sogar noch etwas höher ist?«
Rutledge ging noch einmal in das Dienstbotenzimmer im Osten und blickte hinaus. Hamish hatte recht. Ted Baylors Haus war zwar nicht direkt dem Wäldchen zugewandt, doch es musste, ebenso wie das Pfarrhaus, Fenster haben, die einen Blick darauf boten.
Das war eine interessante Feststellung. Aber ob sie sich als nützlich erweisen sollte, stand auf einem ganz anderen Blatt.
Die Frage war jetzt, wer zur Treppe gekommen war und den Pfarrer gerufen hatte.
Rutledge setzte sich noch eine Stunde an Towsons Bett, um Dr. Middleton abzulösen, der in seine Praxis gegangen war, um Schienen zu holen.
Der Pfarrer kam zwischendurch kurz zu sich und war erstaunt darüber, dass er in seinem Bett lag und ihm alles wehtat.
Rutledge sagte: »Erinnern Sie sich nicht daran, dass Sie die Dachbodentreppe hinuntergefallen sind?«
Towson zog die Stirn in Falten. »War ich auf dem Dachboden? Da gehe ich doch so gut wie nie hinauf.«
»Heute waren Sie dort. Und jemand hat nach Ihnen gerufen und gesagt, Sie würden auf der Stelle gebraucht.«
Towson hob seine gesunde Hand an seine Stirn, als könnte er dort die Erinnerung finden, irgendwo in greifbarer Nähe.
Aber ganz gleich, was er Dr. Middleton sofort nach seinem Eintreffen erzählt hatte - jetzt war diese Erinnerung restlos ausgelöscht.
17.
Nachdem Dr. Middleton jemanden gefunden hatte, der bei Towson wachen würde - zufällig handelte es sich um Grace Letteridge -, stand es Rutledge frei, in Hensleys Haus zurückzukehren. Als er das Wohnzimmer betrat, das Hensley als Büro diente, fühlte er sich niedergeschlagen.
Hamish sagte: »Wahrscheinlich wird er sich wieder daran erinnern, wenn er ausgeschlafen hat.«
Aber Dr. Middleton war nicht sehr zuversichtlich gewesen.
»Tja, wer weiß? Es war ein Schock, dieser Sturz, und hinterher hat er dagelegen und konnte nicht um Hilfe rufen. Das hätte sogar einen jüngeren Mann arg mitgenommen.«
»Trotzdem hat er Ihnen gleich nach Ihrer Ankunft berichtet, was vorgefallen ist.«
»Ja, nun, ich war sein Retter, der auf einem weißen Ross herbeigeeilt kam. Hillary ist ein liebes Mädchen, aber in einem Notfall ist kein Verlass auf sie. Auf mich war Verlass, und er muss in der Hoffnung durchgehalten haben, dass ein vernünftiger Mensch auftaucht, mit dem er reden kann. Erst dann konnte er es sich leisten, das Bewusstsein zu verlieren.«
Middleton hatte Rutledge einen Sherry angeboten, den er aus Towsons privatem Vorrat im Arbeitszimmer hervorgekramt hatte, ehe er das Pfarrhaus verließ. »Den kann ich jetzt weiß Gott gebrauchen, und Sie können sich auch einen gönnen.«
Rutledge erhob keine Einwände. Noch dazu war es ein wirklich guter Sherry.
»Warum sollte jemand ihn holen und ihm zurufen, dass er sich beeilen soll - und dann einfach fortgehen, als er gestürzt ist? Das leuchtet mir nicht ein«, sagte Middleton, als er sich in den besten Sessel setzte und seine Beine vor sich ausstreckte. »Es sei denn, er hatte eine Art Anfall und hat sich nur eingebildet, dass jemand nach ihm gerufen hat. Auch das ist eine Möglichkeit, verstehen Sie?«
Aber Rutledge konnte es sich nicht leisten, die anderen Möglichkeiten außer Acht zu lassen. Kein Polizist hätte das getan.
»Zwei Unfälle dieser Größenordnung im Lauf einer Woche in einer so kleinen Ortschaft. Die Frage ist, ob ein Zusammenhang besteht. Oder ob es bloßer Zufall ist.«
Hamish sagte: »Ich für meinen Teil würde mich fragen, warum so kurz hintereinander?«
Das war ein Punkt, der bedacht werden musste. Warum war in diesem ruhigen kleinen Dorf urplötzlich eine Woge von Gewalttätigkeit ausgebrochen?
Es sei denn, Hensley hatte in diesem verdammten Wäldchen etwas gefunden. Aber falls es so war, dann hatte er sogar im Krankenhaus den Mund gehalten. Warum? Hätte er sich sonst selbst belastet? Ausgeschlossen war es nicht.
Aber sogar dann, wenn der Pfarrer durch seine eigene Unachtsamkeit die Treppe hinuntergestürzt wäre, hatte Hensley diesen Pfeil nicht auf seinen eigenen Rücken abgeschossen. Also war immer noch eine dritte Person im Spiel.
Falls sich Keating in seiner Abwesenheit in Hensleys Haus eingefunden hatte, fand Rutledge keinen Hinweis darauf. Er ging mit sich zurate, ob er dem Wirtshaus einen weiteren Besuch abstatten sollte, doch das wäre ein sinnloses
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