Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
in die Erde unter der Hecke zu graben, bevor er den Motor ausgeschaltet hatte und das Fahrzeug wankend zum Stehen kam.
Sein Gesicht war nass von seinem eigenen Blut, doch er nahm es kaum wahr. Seine Gedanken wurden von der Stille auf dem Sitz hinter ihm gänzlich in Anspruch genommen.
Ich wage nicht, mich umzudrehen und nachzusehen.
Wenn er schwer verletzt ist, was kann ich dann tun? Ich kann ihn doch nicht anfassen!
Als sich der erste Schock legte, rief er sich ins Gedächtnis zurück, dass Hamish bereits tot war und auf einem der schlammigen Friedhöfe Frankreichs begraben lag.
Auf die Erleichterung, die ihn durchflutete, folgte kalte Wut.
Er sprang aus dem Wagen, ließ die Tür weit hinter sich aufschwingen und raste auf eine Lücke in der Hecke zu, die gut sechs Meter vor ihm lag.
Der Schuss war aus einem Revolver abgegeben worden, dessen war er sich ganz sicher. Er kannte die Reichweite, und seine Ohren hatten unbewusst die Richtung registriert, aus der das Geräusch gekommen war, obwohl er das Mündungsfeuer nicht gesehen hatte. Und in seinem Kopf war jetzt nur noch Raum für den einen Gedanken, wie er den Mann, der den Schuss abgegeben hatte, in die Finger kriegen konnte.
»Du kannst das Auto nicht hier stehen lassen!«, rief Hamish ihm nach. »Diese Kurve …«
Aber Rutledge kletterte auf den Steinen, dem Unkraut und der harten Erde am Fuße der Hecke hinauf und achtete dabei nicht auf die stoppeligen Stängel und Zweige, die an seinen Kleidungsstücken zerrten und seine Hände zerkratzten. Er fand ein Loch in der Hecke, wo eine der dichten Heckenpflanzen abgestorben war, bahnte sich mit einem letzten Kraftakt seinen Weg hindurch und stürzte auf die sanft abfallende Weide dahinter.
Er war nicht sicher, was er dort vorzufinden erwartet hatte. Aber bis auf ein grasendes Pferd am hinteren Ende der Weide war von einem Lebewesen nichts zu sehen.
Die Jahre in den Schützengräben hatten ihn gelehrt, den exakten Standort eines Heckenschützen in seinem Versteck zu bestimmen, und mit gewohnter Leichtigkeit stellte sich das Erlernte wieder ein. Er lief an der Hecke entlang und suchte nach zertrampelten Grashalmen oder aufgescharrter Erde - nach irgendwelchen Anzeichen darauf, wo sich jemand lang auf dem Boden ausgestreckt hatte oder am Rande des dichten Gewirrs aus Ästen und toten Blumenstängeln kauerte und darauf wartete, einen weiteren Schuss abzugeben.
Das Gras unter seinen Füßen hatte eine matte gelbe Färbung und war feucht. Seine Lederschuhe saugten sich schnell mit der Nässe voll, als er im Trab dem Verlauf der Hecke folgte. Den Schusswinkel konnte er berechnen. Keine fünfzehn Meter von der Stelle entfernt, an der er durch die Hecke geklettert war, fand er, was er suchte - Schlamm am Boden und darüber einen einzigen Zweig, der abgebrochen war. Er ging in die Hocke und blickte auf die schmale Straße zurück. Es war deutlich zu erkennen, dass sich von hier aus eine perfekte Schusslinie auf den Wegabschnitt bot, den sein Wagen passiert hatte, als die Windschutzscheibe zersplittert war.
Also kein Versehen. Aber was dann? Er konnte nicht glauben, dass große Jungen mit dem Erinnerungsstück ihres Vaters aus dem Krieg Versuche angestellt hatten. Der Schuss hatte seinen
Kopf nur knapp verfehlt. Die Frage war jetzt, ob er ihn absichtlich verfehlt hatte oder ob der Schütze nicht geschickt genug war, um sein Ziel zu treffen.
Als er sich aufrichtete, sah er, dass höchstens dreißig Zentimeter weiter drei Patronenhülsen in einen dichteren Teil der Hecke geschoben worden waren, auch diesmal wieder in ein Stück Munitionsgurt gewickelt.
Seine Wut war zerronnen, und er drehte sich eilig um und suchte noch einmal die Weide ab, denn ihm war plötzlich bewusst geworden, was für ein leichtes Ziel er bot, falls der Mann mit dem Revolver einen weiteren Schuss abgeben sollte. Dort war niemand. Nichts, was bewies, dass überhaupt jemand dort gewesen war.
Es war, als sei das Ganze nichts weiter als eine Ausgeburt seiner Phantasie. Das Pferd graste friedlich und die Krähen hatten sich wieder in den Bäumen auf der anderen Straßenseite niedergelassen. Und doch ließ sich die zerschmetterte Windschutzscheibe nicht leugnen, und es gab Indizien dafür, dass jemand auf der Lauer gelegen, auf sein Ziel angelegt und den Abzug betätigt hatte. Kein Schuss, der versehentlich abgegeben worden war, sondern ein sorgsam geplanter Hinterhalt.
Und die Patronenhülsen waren zurückgelassen worden, um ihn zu
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