Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
hinterlassen. Quetschungen im Wangenbereich, am Unterkiefer, im ganzen Gesicht. Aufgequollene und zerbissene Lippen, Verletzungen am Zahnfleisch, vielleicht sogar lockere Zähne. Außerdem würde das Opfer um sich treten, beißen und kratzen. Man würde Nagelspuren finden. Prellungen an den Fingerknöcheln. Abwehrverletzungen. Immerhin geht es um Leben oder Tod, richtig? Aber es gibt keinerlei Kampfspuren. Nicht die geringsten.«
»Vielleicht hat er sie unter Drogen gesetzt«, warf Blake ein. »Sich gefügig gemacht, Sie wissen schon, zum Beispiel mit K.o.-Tropfen.«
Stavely schüttelte den Kopf.
»Niemand stand unter Drogeneinfluss«, erwiderte er. »Der toxikologische Befund ist negativ, in allen vier Fällen.«
Wieder herrschte Schweigen. Reacher zog Harper unterdessen an den Händen vom Tisch hoch, woraufhin sie sich abklopfte und zu ihrem Platz zurückkehrte.
»Sie haben also nach wie vor keine Erklärung dafür?«, fragte Blake.
Stavely zuckte mit den Schultern. »Wie schon gesagt, ich kann mir die Sache durchaus erklären. Aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit.«
Schweigen.
»Ich hab doch gesagt, dass es sich um einen ganz gerissenen Kerl handelt«, sagte Reacher. »Zu gerissen für euch jedenfalls. Viel zu gerissen. Er hat vier Morde verübt, und ihr wisst immer noch nicht, wie er es anstellt.«
»Und welche Lösung haben sie zu bieten, Sie Schlauberger?« , fauchte Blake. »Können Sie uns vielleicht etwas erklären, für das vier der besten Pathologen dieses Landes bislang noch keine Erklärung gefunden haben.«
Reacher sagte nichts.
»Wie lautet die Lösung?«, fragte Blake noch einmal.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Reacher.
»Na großartig. Sie wissen es also nicht.«
»Aber ich werde es herausfinden.«
»Aha, wie denn?«
»Ganz einfach. Ich spüre den Kerl auf und frage ihn.«
Etwa einundvierzig Meilen weiter nordöstlich, rund zwei Meilen von seinem Arbeitsplatz entfernt, trat der Colonel nach einer etwa zehn Meilen weiten Fahrt in die Haupthalle des National Airport. Er war mit einem Zubringerbus vom Parkplatz des Pentagon zum Kapitol gefahren, hatte ein Taxi angehalten und sich über den Fluss zurück zum Inlandsflughafen bringen lassen. Er hängte sich den ledernen Kleidersack mit seiner Uniform über die Schulter und drängte sich durch die dichten Menschentrauben, die sich um diese Tageszeit im Terminal tummelten, zum Ticketschalter vor, ohne dass ihn jemand auch nur eines Blickes würdigte.
»Nach Portland, Oregon, bitte«, sagte er. »Touristenklasse, hin und zurück. Rückflug offen.«
Der Mann am Schalter gab den Zielort in den Computer ein und stellte fest, dass auf dem nächsten Nonstoppflug noch jede Menge Plätze frei waren.
»Die Maschine startet in zwei Stunden«, sagte er.
»Bestens«, erwiderte der Colonel.
»Sie meinen also, Sie können den Kerl aufspüren?«, sagte Blake.
Reacher nickte. »Muss ich ja wohl. Mir bleibt doch gar nichts anderes übrig.«
Alle schwiegen. Dann schob Stavely seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Na denn, viel Glück, Sir«, sagte er.
Er ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.
»Sie werden ihn aber nicht aufspüren«, warf Poulton ein. »Weil Sie sich irren, weil Sie Caroline Cooke nicht berücksichtigen. Sie hat nicht in einem Nachschublager gedient, sie hatte nichts mit Waffenerprobung zu tun. Sie ist der beste Beweis dafür, dass Ihre Theorie nichts taugt.«
Reacher lächelte. »Hab ich etwa behauptet, ich wüsste über das FBI genau Bescheid?«
»Nein, keineswegs.«
»Dann lassen Sie sich gefälligst nicht über die Army aus. Cooke war Offiziersanwärterin. Jemand, der schnell vorankommen wollte. Unbedingt, sonst wäre sie nicht im Planungsstab gelandet. Solche Leute werden normalerweise eine Zeit lang hierhin und dorthin versetzt, damit sie sich einen allgemeinen Überblick verschaffen können. Die Auflistung, die Sie da vorliegen haben, ist unvollständig.«
»Tatsächlich?«
Reacher nickte. »Selbstverständlich. Wenn man jeden einzelnen Standort aufgelistet hätte, an dem sie stationiert war, kämen im Nu zehn Seiten zusammen, noch ehe sie zum Lieutenant befördert wurde. Erkundigen Sie sich beim Verteidigungsministerium, lassen Sie sich alle Einzelheiten geben, dann werden Sie feststellen, dass sie irgendwo irgendetwas damit zu tun gehabt haben könnte.«
Wieder kehrte Stille ein. Nur das dumpfe Rauschen der Heizung und das Summen der Neonröhren war zu hören. Dazu ein hoher Pfeifton, der
Weitere Kostenlose Bücher