Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Oase der Ruhe. Hier war nicht viel los. Ein Hubschrauber befand sich in der Luft, aber soweit entfernt, dass man keinen Ton hörte. Trent hatte Reacher offenbar angemeldet, denn der Posten am Tor erwartete sie bereits. Er hob die Schranke und erklärte ihnen, dass sie vor dem Transportbüro der Marineinfanterie parken und sich dort durchfragen sollten.
Harper stellte den gelben Wagen neben einer Reihe matt olivgrüner Chevrolets ab und ging mit Reacher über den asphaltierten Parkplatz zur Bürotür. Ein Corporal verwies sie an einen Sergeant, der sie wiederum an einen Captain verwies. Der Captain starrte sie an und teilte ihnen mit, dass der Erprobungsflug eines neuen Truppentransporters, einer Boeing, von San Diego nach Portland umgeleitet werde. Erklärte ihnen, dass sie mitfliegen könnten, aber die einzigen Passagiere an Bord wären. Der Start würde in drei Stunden erfolgen.
»In drei Stunden?«, wiederholte Reacher,
»Portland ist ein Zivilflughafen«, sagte der Captain. »Das muss beim Flugplan berücksichtigt werden.«
Reacher schwieg. Der Captain zuckte die Achseln.
»Der Colonel hat sein Bestes getan«, meinte er.
28
Der Captain führte sie zu einem Warteraum im ersten Stock. Einem schmucklosen Zimmer mit Linoleumboden, Neonlampen an der Decke und billigen Plastikstühlen, die krumm und schief um die niedrigen, mit eingetrockneten Kaffeeringen übersäten Tische standen. In der einen Ecke befand sich ein Abfalleimer voller weggeworfener Styroporbecher.
»Macht nicht viel her«, sagte der Captain. »Aber was Besseres haben wir nicht zu bieten. Hier drin warten allerlei hohe Tiere.«
Müssen die auch drei Stunden warten? , dachte Reacher. Doch er sagte nichts. Bedankte sich nur beim Captain, stellte sich dann ans Fenster und blickte hinaus auf die Rollbahnen. Hier war derzeit nicht viel los. Harper leistete ihm einen Moment Gesellschaft, wandte sich dann wieder ab und setzte sich auf einen Stuhl.
»Reden Sie mit mir«, sagte sie. »Worum geht es?«
»Fangen wir mal mit dem Motiv an«, erwiderte er. »Wer hat ein Motiv?«
»Keine Ahnung.«
»Nehmen wir uns zunächst mal Amy Callan vor. Angenommen, Sie wäre das einzige Opfer. Wem würden Sie am ehesten ein Motiv zutrauen?«
»Dem Ehemann.«
»Warum dem Ehemann?«
»Bei toten Ehefrauen fällt der erste Verdacht immer auf den Mann«, sagte sie. »Weil es beim Motiv oftmals um persönliche Dinge geht. Und der Ehemann steht dem Opfer am nächsten.«
»Und wie würden Sie dabei vorgehen?«
»Wie? So wie immer. Wir nehmen ihn in die Mangel, klopfen sein Alibi ab und lassen nicht locker, bis sich irgendwas ergibt.«
»Und das steht er nicht durch, stimmt’s?«
»Früher oder später bricht er zusammen.«
Reacher nickte. »Okay, angenommen, es handelt sich um Amy Callans Mann. Wie kann er verhindern, dass man ihn in die Mangel nimmt?«
»Das kann er gar nicht verhindern.«
»Doch, durchaus. Er kann es verhindern, indem er loszieht, sich etliche Frauen sucht, die ein paar Gemeinsamkeiten mit seiner haben, und sie ebenfalls umbringt. Dazu
treibt er allerlei Brimborium, weil er weiß, dass jeder sofort darauf anspringt. Mit anderen Worten: Er stellt einen Haufen Blödsinn an, weil er seine eigentliche Absicht verschleiern will. Er lenkt jeden Verdacht von sich ab, weil es ja mehrere Opfer gibt und somit kein persönliches Motiv vorliegen kann. Wo lässt sich denn ein Sandkorn am ehesten verstecken.«
»Am Strand.«
»Richtig«, sagte er.
»Dann ist es also Callans Mann?«
»Nein, keineswegs«, erwiderte er. »Aber?«
»Aber wir müssen herausfinden, wer ein Motiv hat, eine dieser Frauen zu töten«, erklärte sie. »Es geht nur um eine. Alle anderen tötet er nur zur Tarnung. Weil ein einzelnes Sandkorn am Strand nicht weiter auffällt.«
»Ein Ablenkungsmanöver also«, sagte er. »Viel Lärm um nichts.«
»Aber um wen geht es? Auf welche hat er es eigentlich abgesehen?«
Reacher schwieg. Er ging vom Fenster weg, setzte sich hin und wartete.
Du wartest ab. Hier droben in den Bergen ist es kalt. Kalt und ungemütlich, wenn man unmittelbar hinter den Felsen kniet und ein strammer, nasser Westwind weht. Aber du wartest einfach ab. Genaues Observieren ist wichtig, denn Sicherheit ist das A und O. Wenn du genau aufpasst, gelingt dir alles. Dann kann dich keiner aufhalten. Folglich wartest du ab.
Du beobachtest den Cop, der da drunten in seinem Wagen sitzt, und amüsierst dich ein bisschen angesichts seiner Not. Er ist nur ein paar
Weitere Kostenlose Bücher