Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
sie nur im Frühjahr neue Pflanzen setzen, und das Beschneiden und Zurechtstutzen musste sie bis Anfang Oktober erledigt haben. Im Spätherbst und im Winter hielt sie die Türen verschlossen und blieb im Haus.
Heute wollte sie sich Johann Sebastian Bach widmen, dessen Zweistimmige Inventionen und Symphonien für Klavier üben. Sie liebte diese Stücke. Die Art und Weise, wie sie sich entwickelten, weiter und immer weiter, in sich so schlüssig und logisch, bis sie wieder genauso aufhörten, wie sie angefangen hatten. So wie die Stiche von Maurits Escher, auf denen die Treppen immer nur aufwärts führten, bis sie wieder unten anlangten. Einfach wunderbar. Aber sie waren schwer zu spielen. Man musste sie langsam angehen. Zunächst einmal wollte sie den Ton treffen, den richtigen Anschlag finden, die Bedeutung erfassen und sich erst dann, ganz zuletzt, an das passende Tempo herantasten. Es gab nichts Schlimmeres, als Bach zu schnell oder gar schludrig zu spielen.
Sie ging ins Bad und duschte sich, kehrte dann ins Schlafzimmer zurück und zog sich rasch an, denn noch heizte sie das Haus kaum, und im Nordwesten war es im Herbst ziemlich frisch. Aber heute sah es wenigstens etwas heller aus. Sie blickte aus dem Fenster und betrachtete die grauen Streifen der Dämmerung im Osten, die wie stählern schimmernde Spieße gen Westen zogen. Ein Wetter, das ihrem Dasein
entsprach. Nicht schön, nicht schlecht. Aber ganz erträglich.
Harper zögerte einen Moment, dann ging sie mit Reacher zum Aufzug. Marschierte mit ihm hinaus in die frische Luft und quer über das Gelände zu ihrem Auto. Einem kleinen, gelben Zweisitzer, den er noch nie gesehen hatte. Er musste den Kopf einziehen, als er sich auf den Beifahrersitz quetschte. Sie warf ihm einen bösen Blick zu, stellte ihre Tasche auf seinem Schoß ab und setzte sich ans Steuer. Ihre Ellbogen stießen zusammen, als sie den Gang einlegte, denn die Karre hatte erstens einen Schaltknüppel in der Mitte, und außerdem ging es darin ziemlich eng zu.
»Und wie kommen wir dorthin?«
»Wir müssen einen Linienflug nehmen«, sagte er. »Versuchen Sie’s bei National Airlines. Haben Sie Kreditkarten?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Die sind alle gesperrt. Kredit überzogen.«
»Bei allen?«
Sie nickte. »Ich bin zurzeit ziemlich pleite.«
Er schwieg.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte sie.
»Ich bin ständig pleite«, erwiderte er.
Die fünfte der dreistimmigen Symphonien für Klavier, BWV 791 , war eines der schwersten Stücke im gesamten Bach-Werke-Verzeichnis, aber auch ihr absolutes Lieblingsstück. Hier kam es ganz und gar auf den richtigen Ton an, und den musste man zunächst im Kopf treffen, dann über Schultern und Arme weiterleiten, über Hände und Finger, bis man den entsprechenden Anschlag fand. Zaghaft musste es klingen, zugleich aber zuversichtlich. Denn das ganze Stück war der schiere Wahnwitz, und dazu musste man sich mit jedem Ton bekennen, aber es sollte auch fest und unverbrüchlich wirken, damit es seine volle Pracht entfalten konnte. Glasklar
musste es klingen, aber zugleich aberwitzig. Insgeheim war sie davon überzeugt, dass Bach ziemlich verrückt gewesen sein musste.
Der Flügel erleichterte das Ganze. Sein Tonumfang war so groß, dass die ganze Klangfülle des Kontrapunkts zum Tragen kam, zugleich aber auch die filigranen, eher zarten Töne, die ganze Eleganz der leichtfüßigen und behänden Läufe. Sie spielte das Stück zweimal von Anfang bis Ende durch, immer mit halbem Tempo, bis sie einigermaßen zufrieden war. Sie beschloss, drei Stunden lang zu üben, dann aufzuhören, etwas zu Mittag zu essen und danach die Hausarbeit zu erledigen. Sie wusste noch nicht genau, was sie am Nachmittag tun sollte. Vielleicht würde sie noch ein bisschen spielen.
Du nimmst deinen Beobachtungsposten zeitig ein. So früh, dass du noch vor der Wachablösung um acht Uhr in Stellung gegangen bist. Du siehst, wie sie vonstatten geht. Alles läuft wieder genauso ab wie gestern. Der FBI-Mann ist noch wach, aber nicht mehr allzu aufmerksam. Der Crown Victoria trifft ein, bleibt neben ihm stehen. Der Motor des Buick wird angelassen, der Crown Victoria wendet, der Buick fährt bergabwärts davon, der Crown Victoria rollt ein Stück weiter und nimmt seine Stelle ein. Der Motor wird abgestellt, der Fahrer dreht sich um. Er lässt sich tief in den Sitz sinken und tritt seine letzte Schicht als Cop an. Nach dem heutigen Tag wird man ihm nicht einmal mehr einen Posten
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