Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
er in Jodie verliebt, seit er sie auf einem Stützpunkt auf den Philippinen zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war damals fünfzehn gewesen – ein hinreißendes Mädchen, das gerade zur Frau erblühte – und die Tochter seines Kommandeurs, weshalb er seine Gefühle unterdrückt und schuldbewusst geheim gehalten hatte. Alles andere wäre ihm wie ein Vertrauensbruch vorgekommen, und Leons Vertrauen würde er nie im Leben missbrauchen, denn Leon war zwar ein raubeiniger, aber großartiger Mann, den er liebte, als wäre er sein eigener Vater. Dadurch war Jodie für ihn so eine Art Schwester, und für eine Schwester hegt man keine solchen Gefühle.
Dann hatte ihn der Zufall zu Leons Beerdigung geführt, wo er Jodie wiedertraf. Nachdem sie ein paar Tage mehr oder weniger verkrampft miteinander herumgetändelt hatten, gestand sie ihm, dass es ihr genauso ging wie ihm und sie ihre Gefühle aus den gleichen Gründen vor ihm verborgen hatte. Er war wie vom Donner gerührt gewesen, außer sich vor Glück und Freude angesichts der großen Überraschungen, die ihm diese Woche im Frühsommer beschert hatte.
Die Wiederbegegnung mit Jodie war dabei die angenehme Überraschung gewesen, Leons Tod die unangenehme, daran gab’s nichts zu deuteln, aber dass er das Haus, ein stattliches Gebäude in bester Lage, unmittelbar am Hudson, direkt gegenüber von West Point, gut und gern eine halbe Million
Dollar wert und durchaus gemütlich, geerbt hatte, war sowohl angenehm wie unangenehm. Das Gefühl, an einen festen Ort gebunden zu sein, beunruhigte und verwirrte ihn, nachdem er sein Leben lang in der ganzen Welt herumgezogen war. Mannschaftsunterkünfte, Dienstbungalows und Motels waren sein Lebensraum. Dieses Dasein war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Die Vorstellung, dass er jetzt Grund und Boden besaß, bereitete ihm Kopfzerbrechen. Sein ganzes Leben lang hatte er nie mehr als das gehabt, was in seine Hosentaschen passte. Als Junge hatte ihm ein Baseball gehört und sonst nicht viel. Als Erwachsener war er einmal sieben Jahre lang ohne persönlichen Besitz ausgekommen, abgesehen von einem Paar Schuhe, die er den vom Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellten Tretern vorzog. Dann hatte ihm eine Frau eine Brieftasche mit einem Klarsichtfenster und einem Foto von ihr geschenkt. Er hatte den Kontakt zu der Frau verloren und das Foto weggeworfen, aber die Brieftasche behielt er. Die übrigen sechs Jahre beim Militär hatte er sich mit den Schuhen und der Brieftasche begnügt. Nachdem er den Dienst quittiert hatte, kam eine Zahnbürste hinzu. Sie war aus Plastik, ließ sich in zwei Teile zerlegen und wie ein Kugelschreiber an die Brusttasche klemmen. Außerdem besaß er eine Armbanduhr. Sie stammte aus Militärbeständen, hatte also ursprünglich der Army gehört und war in seinen Besitz übergegangen, als niemand sie zurückverlangte. Aber das war es auch. Die Schuhe an den Füßen, die Kleidung am Leib, dazu ein paar kleine Scheine in den Hosentaschen, ein paar große in der Brieftasche, eine Zahnbürste in der Brusttasche und eine Armbanduhr am Handgelenk.
Jetzt war er Besitzer eines Hauses. Und ein Haus war etwas Kompliziertes. Etwas Großes, Greifbares und sehr Kompliziertes. Es fing mit dem Keller an. Der Keller war ein riesiger, dunkler Raum mit Betonboden, gemauerten Wänden
und bloß liegenden Trägern, die sich wie Rippenknochen über die Decke zogen. Es gab dort unten allerlei Rohre, Drähte und Apparaturen. Ein Heizbrenner. Draußen war irgendwo ein Öltank verbuddelt. Außerdem war eine Zisterne vorhanden. Große, runde Rohre führten durch die Wand zur Aufbereitungsanlage. Das Ganze kam ihm vor wie eine verzwickte Maschine mit zahllosen, ineinander greifenden Rädchen, und er hatte keine Ahnung, wie sie funktionierte.
Oben fand er sich eher zurecht. Es gab eine Vielzahl verwinkelter Räume, allesamt angenehm verwohnt und unordentlich. Aber sie hatten auch ihre Geheimnisse. Manche Lichtschalter funktionierten nicht. Eins der Fenster war verzogen und ließ sich nicht öffnen. Der Küchenherd war zu kompliziert, als dass er ihn benutzte. Nachts knarrte und knackte das ganze Gebäude, als wollte es ihn daran erinnern, dass es tatsächlich sein Eigentum war und er sich damit auseinander setzen musste.
Und ein Haus ist nicht nur dazu da, dass man es bewohnt. Es erfordert auch allerlei Verwaltungskram. Mit der Post war ein Schreiben bezüglich der Grundbucheintragung gekommen. Er musste sich etwas wegen der
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