Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Woche im Ausland gewesen, in London. Er wusste nicht mehr genau, wann. Jedenfalls hatte er eine Zeit lang allein zugebracht.
Als der Herbst anbrach, hatte er sich mit dem Haus beschäftigt. Auch da gab es allerhand zu tun. Aber er hatte alles allein gemacht. Jodie war meist in der Stadt geblieben. Nur ab und zu verbrachten sie eine Nacht zusammen. Er war nirgendwo gewesen, konnte keine Flugscheine vorweisen, keine Hotelrechnungen, keine Passstempel. Keinerlei Alibi. Er musterte die sieben Agenten, die ihm gegenübersaßen.
»Ich möchte jetzt meine Anwältin sprechen«, sagte er.
Die beiden jungen Agenten von der hiesigen Außenstelle brachten ihn in das andere Zimmer zurück. Sie behandelten ihn jetzt anders. Diesmal blieben sie bei ihm und bauten sich links und rechts neben der geschlossenen Tür auf. Reacher setzte sich auf den Plastikstuhl und beachtete sie nicht weiter. Er horchte auf das unentwegte Summen in den Lüftungsrohren an der Decke, wartete und dachte an gar nichts.
Er wartete fast zwei Stunden. Die beiden Posten standen geduldig an der Tür, schauten ihn nicht an, sagten kein Wort, rührten sich nicht. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen, lehnte sich zurück und starrte auf die Rohre über seinem
Kopf. Sie waren paarweise verlegt. Die einen bliesen Frischluft in den Raum, die anderen saugten die abgestandene Luft ab. Die Konstruktion war klar zu erkennen. Er verfolgte die Lüftungsleitungen und stellte sich die großen Ventilatoren draußen auf dem Dach vor, die sich langsam in entgegengesetzter Richtung drehten und das Gebäude wie eine Lunge beatmeten. Er stellte sich vor, wie seine verbrauchte Atemluft in den Nachthimmel über Manhattan aufstieg und hinaus auf den Atlantik trieb.
Dann hörte er Stimmen draußen auf dem Flur. Die Tür wurde geöffnet, die beiden Posten gingen hinaus, und Jodie kam herein. Sie strahlte regelrecht inmitten der grauen Wände. Sie trug ein pfirsichfarbenes Kleid und darüber einen Wollmantel, der ein, zwei Schattierungen dunkler war. Ihre Haare besaßen noch immer den von der Sommersonne gebleichten Ton. Ihre Augen waren hellblau, ihre Haut schimmerte honigfarben. Es war mitten in der Nacht, aber sie wirkte frisch wie der neue Tag.
»Hey, Reacher«, begrüßte sie ihn.
Er nickte nur, ohne etwas zu sagen, sah ihre besorgte Miene. Sie trat zu ihm, beugte sich herab und küsste ihn auf den Mund. Sie roch nach Blumen.
»Hast du mit ihnen geredet?«, fragte er sie.
»Ich kann die Sache hier nicht klären. Ich bin nicht die richtige Person dafür«, sagte sie. »Wenn’s um Wirtschaftsrecht ginge, jederzeit, aber von Strafrecht habe ich keine Ahnung.«
Groß und schlank stand sie vor seinem Stuhl, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Jedes Mal, wenn er sie sah, kam sie ihm noch schöner vor. Müde stand er auf und reckte sich.
»Da gibt’s nichts zu klären«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Doch, das gibt es wohl.«
»Ich habe keine Frauen umgebracht.«
Sie starrte ihn an. »Natürlich nicht. Das weiß ich doch. Und die wissen es auch, sonst hätten sie dir Hand- und Fußschellen
angelegt und dich gleich runter nach Quantico geschafft, statt dich hier einzubuchten. Es muss um die andere Sache gehen. Sie haben dich dabei gesehen . Du hast zwei Jungs krankenhausreif geschlagen.«
»Darum geht es nicht. Sie haben zu schnell reagiert. Das hier war geplant, bevor die andere Sache passiert ist. Und sie scheren sich auch nicht darum. Ich habe nichts mit Schutzgeldringen zu tun. Und das ist alles, worum es Cozo geht – um organisiertes Verbrechen.«
Sie nickte. »Cozo ist zufrieden. Möglicherweise sogar mehr als zufrieden. Er ist zwei Eintreiber los, ohne dass er etwas dafür tun musste. Aber du bist in eine Zwickmühle geraten, siehst du das denn nicht ein? Um Cozo zu überzeugen, musstest du dich als Einzelgänger hinstellen, der auf eigene Faust für Recht und Ordnung sorgt. Das entspricht genau diesem Täterprofil, das sie in Quantico erstellt haben. Und allmählich verwirrst du sie, egal, aus welchem Grund sie dich festgenommen haben.«
»Dieses Profil ist Blödsinn.«
»Sie sind anderer Meinung.«
»Es muss Blödsinn sein. Sonst wären sie nicht auf mich gekommen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind auf jemanden gekommen, der dir ganz ähnlich ist.«
»Scheißegal. Ich sollte einfach gehen.«
»Das kannst du nicht. Du steckst schwer in der Klemme. Gleichgültig, was sie sonst noch in der Hand haben, aber sie waren dabei, wie du die
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