Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Typ kippte vornüber, und Reacher zog ihm den Pistolengriff über den Schädel, traf ihn dicht über dem Ohr, so dass er genau über seinen Kameraden fiel. Reacher drückte den Abzug durch, damit der Schlitten wieder einrastete, und verstaute die Waffe in seinem Mantel. Hob die Geldtasche auf und klemmte sie sich unter den Arm, trat aus der Gasse und ging in Richtung Norden.
Er war schon viel zu spät dran. Wenn seine Uhr auch nur eine Minute nachging, wenn der Marinereservist auch nur eine Minute zu früh losfuhr, dann hatten sie sich bereits verpasst. Aber er rannte nicht. Hier in der Großstadt war das zu auffällig, zu verdächtig. Er lief, so schnell er konnte, mit weit ausholenden Schritten, wich ab und zu aus und schlängelte sich durch das Gedränge auf den Gehsteigen. Als er um eine Ecke bog, sah er den blauen Wagen mit der unauffälligen Aufschrift USNR an der Seite. Sah, wie er losfuhr und sich in den Verkehr einfädelte. Jetzt rannte er.
Vier Sekunden später war er an der Stelle, wo der Wagen eben noch gestanden hatte. Jetzt befand er sich bereits drei Autos vor ihm und beschleunigte, um noch bei Grün über die nächste Ampel zu kommen. Reacher starrte hinterher.
Die Ampel schaltete auf Rot, der Wagen wurde noch schneller. Im letzten Moment kniff der Fahrer und trat auf die Bremse. Einen Schritt vor dem Fußgängerüberweg kam der Wagen zum Stehen. Passanten strömten vor ihm über die Straße. Reacher atmete tief durch, rannte zur Kreuzung, riss die Beifahrertür auf und sprang hinein. Der Fahrer nickte ihm zu, sagte kein Wort, entschuldigte sich nicht dafür, dass er nicht gewartet hatte. Reacher hatte es auch nicht erwartet. Wenn einem die Navy drei Stunden gab, dann meinte sie auch drei Stunden. Ebbe und Flut warten auf keinen Mann . Bei der Navy hielt man sich an allerlei Blödsinn dieser Art.
Die Rückkehr nach Fort Dix ging genauso vonstatten wie die Anreise, nur in umgekehrter Reihenfolge. Dreißig Minuten mit dem Auto quer durch Brooklyn, der bereitstehende Hubschrauber, der ruppige Flug zur McGuire Air Force Base, der Lieutenant, der mit dem Stabswagen auf dem Vorfeld wartete. Während des Flugs zählte Reacher das Geld in der Tasche. Es waren insgesamt zwölfhundert Dollar, sechs zusammengefaltete Bündel zu je zweihundert Dollar. Er gab den beiden Lademeistern das Geld und sagte, sie sollten es für den nächsten Mannschaftsabend verwenden. Dann zerriss er die Geldtasche entlang der Naht und warf die Einzelteile zweitausend Fuß über Lakewood, New Jersey, durch die Lüftungsschlitze.
In Fort Dix regnete es noch immer. Der Lieutenant fuhr ihn zu der Gasse zurück, worauf er zu Trents Bürofenster lief und leise an die Scheibe klopfte. Trent machte auf, und er kletterte hinein.
»Alles okay?«, fragte er.
Trent nickte. »Sie ist den ganzen Tag mucksmäuschenstill da draußen gesessen. Muss schwer beeindruckt sein von unserem Einsatz. Wir haben über Mittag durchgearbeitet.«
Reacher nickte und gab ihm die nicht geladene Waffe zurück. Zog sein Sakko aus, setzte sich in einen Sessel, hängte
sich den Ausweis wieder um und nahm einen Aktenordner zur Hand. Trent hatte den Stapel von links nach rechts umgeschichtet, als ob sie alles genauestens überprüft hätten.
»Hat es geklappt?«, fragte Trent.
»Ich glaube schon. Nach einiger Zeit werden wir’s wissen, stimmt’s?«
Trent nickte und warf einen Blick aus dem Fenster. Er war unruhig, nachdem er den ganzen Tag lang im Büro festgesessen hatte.
»Wenn Sie wollen, können Sie sie jetzt reinlassen«, meinte Reacher. »Die Vorstellung ist vorbei.«
»Sie sind völlig nass«, widersprach Trent. »Die Vorstellung ist erst vorbei, wenn Sie wieder trocken sind.«
Es dauerte zwanzig Minuten, bis er wieder trocken war. Er rief von Trents Telefon aus bei Jodie an. Ihre Durchwahl in der Kanzlei, die Privatnummer, ihr Handy. Niemand nahm ab, Anrufbeantworter außer Betrieb. Er starrte die Wand an. Dann las er eine nicht geheime Akte über diverse Vorschläge, wie man Marineinfanteristen, die im Indischen Ozean dienten, mit Post versorgen könnte. Während er sich damit befasste, rutschte er immer tiefer in den Sessel und bekam allmählich glasige Augen. Als Trent schließlich die Tür öffnete und Harper zum zweiten Mal an diesem Tag einen Blick ins Büro werfen ließ, saß er reglos und zusammengesunken da. Wie jemand, der sich den ganzen Tag lang mit Papierkram herumgequält hat.
»Weitergekommen?«, rief sie.
Er blickte zur Decke
Weitere Kostenlose Bücher