Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
seinen Bauch.
»Woher stammt die da?«, fragte sie und deutete auf eine Stelle.
Er blickte nach unten. Auf der rechten Seite seines Bauches befand sich eine auffällige Naht, die aussah wie ein verzogener Stern. Weiß und wulstig wölbte sie sich über der straffen Muskulatur.
»Das war meine Mutter«, antwortete er.
»Ihre Mutter ?«
»Ich wurde von Grizzlybären aufgezogen. In Alaska.«
Sie verdrehte die Augen und ließ den Blick zu seiner rechten Brustseite wandern. Die Narbe dort stammte von einer 38er Kugel, die genau durch den Brustmuskel gedrungen war. Rundum fehlten die Haare. Es war ein großes Loch, so groß, dass sie mühelos den kleinen Finger bis zum zweiten Glied hätte hineinstecken können.
»Eine Probeoperation«, meinte er. »Man wollte feststellen, ob ich ein Herz habe.«
»Sie sind heute Morgen sehr fröhlich«, sagte sie.
Er nickte. »Ich bin immer fröhlich.«
»Haben Sie Jodie schon erreicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab’s seit gestern nicht mehr probiert.«
»Wieso nicht?«
»Zeitverschwendung. Sie ist nicht da.«
»Machen Sie sich Sorgen?«
Er zuckte die Achseln. »Sie ist alt genug.«
»Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich was höre.«
Er nickte. »Will ich doch hoffen.«
»Woher sind sie wirklich?«, fragte sie. »Die Narben.«
Er knöpfte sein Hemd zu.
»Die am Bauch stammt von einem Granatsplitter«, sagte er, »die an der Brust von einem Schuss.«
»Aufregendes Leben.«
Er holte seinen Mantel aus dem Kleiderschrank.
»Nein, eigentlich nicht. Ziemlich normal, finden Sie nicht?
Für einen Soldaten? Ein Soldat, der körperlicher Gewalt aus dem Weg gehen will, ist wie ein Buchprüfer, der keine Lust hat, Zahlen zu addieren.«
»Sind Ihnen diese Frauen deshalb so egal?«
Er sah sie an. »Wer sagt denn, dass sie mir egal sind?«
»Ich dachte, die Sache würde Sie mehr aufregen.«
»Mit Aufregung erreicht man gar nichts.«
Sie zögerte. »Womit denn dann?«
»Indem man die Hinweise auswertet, so wie immer.«
»Es gibt keinerlei Hinweise. Er hinterlässt keine.«
Er lächelte. »Das ist doch an sich schon ein Hinweis, finden Sie nicht?«
Sie nahm ihren Schlüssel und sperrte die Tür von innen auf.
»Sie sprechen in Rätseln«, erwiderte sie.
Er zuckte die Achseln. »Besser, als Blödsinn daherreden, so wie die da unten.«
Derselbe Fuhrparkangestellte wie am Vortag brachte denselben Wagen zur Tür. Diesmal blieb er im Auto, saß am Steuer wie ein pflichtgetreuer Chauffeur und fuhr sie auf dem I-95 in Richtung Norden, zum National Airport. Die Dämmerung war noch nicht angebrochen, aber etwa dreihundert Meilen weiter östlich, weit draußen auf dem Atlantischen Ozean, zeichnete sich ein erster heller Streifen am Horizont ab. Ansonsten leuchteten nur die Scheinwerfer tausender Autos, die gen Norden strebten. Es waren zumeist alte Autos. Alt und daher billig, deshalb gehörten sie vor allem kleinen Angestellten, die eine Stunde vor ihren Chefs an ihren Schreibtischen sein wollten, damit sie einen guten Eindruck machten, befördert wurden und künftig mit neuen Autos eine Stunde später zur Arbeit fahren konnten. Reacher betrachtete ihre schattenhaften Gesichter, als der FBI-Fahrer an ihnen vorbeiraste.
In der kleinen Abflughalle herrschte ziemlich reges Treiben.
Männer und Frauen in dunklen Regenmänteln hasteten hin und her. Harper holte am Schalter der United Airlines zwei Bordkarten ab und ging damit zur Abfertigung.
»Wir könnten ein bisschen Beinfreiheit gebrauchen«, sagte sie zu dem Mann hinter dem Schalter.
Sie wies sich mit ihrer FBI-Kennkarte aus, die sie hinknallte wie ein Pokerspieler, der einen Flush vorlegt. Der Typ tippte auf ein paar Tasten und besorgte ihnen bessere Plätze. Harper lächelte, als wäre sie ehrlich erstaunt.
Die Business-Klasse war halb leer. Harper nahm den Sitz am Gang ein, so dass Reacher auf dem Fensterplatz eingeklemmt war wie ein Häftling. Sie streckte die Beine aus. Sie trug wieder einen anderen Anzug, diesmal mit einem feinen Karomuster in gedeckten Grautönen. Das Jackett stand offen, so dass sich ihre Brustwarzen andeutungsweise unter dem Hemd abzeichneten. Ein Schulterholster indessen war nicht zu sehen.
»Haben Sie Ihre Knarre daheim gelassen?«, fragte Reacher.
Sie nickte. »Ist den Aufwand nicht wert. Die Fluggesellschaften verlangen zu viel Papierkram. Ein Mann aus Seattle holt uns ab. Für gewöhnlich bringt er eine Reservewaffe mit, falls wir eine brauchen sollten. Werden wir aber nicht,
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