Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
dich ans Steuer, holst den Schlüssel aus der Tasche und lässt den Motor an. Schnallst dich an, wirfst einen Blick in den Spiegel und fährst weg. Nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam.
Die Akte Callan begann mit einer Auflistung ihrer militärischen Laufbahn. Achtundvierzig Schreibmaschinenzeilen für insgesamt vier Dienstjahre. Er stellte fest, dass er sich ziemlich gut an sie erinnern konnte. Eine kleine, dralle Frau, die immer froh und munter wirkte. Vermutlich war sie zur Army gegangen, ohne sich genau darüber im Klaren zu sein, warum. Bestimmte Menschen schlagen immer den gleichen
Weg ein. Teils stammen sie aus großen Familien und sind daran gewöhnt, mit anderen zu teilen, oder sie haben sich auf der Schule in Mannschaftssportarten ausgezeichnet, sind vielleicht gebildet, aber wollen keine akademische Laufbahn einschlagen – solche Menschen zieht es förmlich dorthin. Vermutlich verstehen sie sich gar nicht als Soldaten, aber sie wissen, dass auf jeden Mann bei der kämpfenden Truppe hundert andere kommen, denen die Army ein Auskommen bietet, bei dem man ein Handwerk erlernen und sich beruflich weiterbilden kann.
Callan war unmittelbar nach der Grundausbildung bei der Materialbeschaffung gelandet. Innerhalb von zwanzig Monaten war sie Sergeant geworden. Sie hatte Verwaltungsarbeiten erledigt und allerlei Güter in alle Welt verschickt, genau wie ihre Schulfreundinnen daheim, nur dass es sich bei diesen Gütern um Waffen und Munition handelte statt um Tomaten, Schuhe oder Autos. Sie hatte in einer Lagerhalle in Fort Withe in der Nähe von Chicago gearbeitet, in der es nach Waffenöl stank und durch die das ständige Rattern und Scheppern der Gabelstapler hallte. Anfangs war sie zufrieden gewesen. Aber dann wurden ihr die derben Zoten zu viel, zumal ihre Vorgesetzten, ein Captain und ein Major, zu weit gingen und sich nicht nur zu schmutzigen Sprüchen hinreißen ließen, sondern auch handgreiflich wurden. Sie war alles andere als zimperlich, aber irgendwann hatte sie das ständige Betatschen und die anzüglichen Blicke nicht mehr ertragen und sich an Reacher gewandt.
Nachdem sie den Dienst quittiert hatte, war sie nach Florida gezogen, in einen kleinen Badeort am Atlantischen Ozean, rund vierzig Meilen nördlich von Palm Beach gelegen, wo es nicht mehr ganz so teuer war. Sie hatte geheiratet, sich von ihrem Mann getrennt, etwa ein Jahr lang dort gelebt, dann war sie gestorben. Die Akte enthielt zahlreiche Beschreibungen und Fotos vom Tatort, aber keinerlei Aussage über die Todesursache. Er betrachtete die Tatortfotos
von ihrem Haus, einem modernen, einstöckigen Gebäude mit einem vorspringenden orangefarbenen Ziegeldach. Weder an den Türen noch an den Fenstern waren irgendwelche Spuren von Gewaltanwendung zu sehen, innen war nichts verwüstet. Die Wanne in dem weiß gekachelten Badezimmer war mit grüner Farbe gefüllt, in der eine undefinierbare Gestalt schwamm.
Der Autopsiebericht gab überhaupt nichts her. Die Farbe war widerstandsfähig und wetterfest, so klebrig, dass sie gut haftete, aber auch so flüssig, dass sie in sämtliche Poren und Ritzen eindrang. Sie überzog ihren ganzen Körper und war in Augen, Nase, Mund und Kehle eingesickert. Beim Entfernen löste sich die Haut mit ab. Keinerlei Verletzung, weder eine Prellung noch eine Quetschung. Der toxikologische Befund war negativ. Keine Phenolinjektion ins Herz, keine Luftembolie. Die Pathologen in Florida kannten sich aus, hatten jede noch so raffinierte Möglichkeit, wie man einen Menschen ermorden kann, in Betracht gezogen, und trotzdem hatten sie nichts feststellen können.
»Nun?«, sagte Harper.
Reacher zuckte die Achseln. »Sie hatte Sommersprossen. Daran kann ich mich noch genau erinnern. Nach einem Jahr im sonnigen Florida hat sie vermutlich ziemlich hübsch ausgesehen.«
»Sie haben sie gemocht.«
Er nickte. »Sie war ein feiner Kerl.«
Der dritte und letzte Teil der Akte enthielt den gründlichsten und umfangreichsten kriminaltechnischen Untersuchungsbericht, den Reacher je gesehen hatte. Er ging buchstäblich bis ins mikroskopisch kleinste Detail. Man hatte das ganze Haus abgesaugt, jede noch so winzige Faser, jedes Staubkorn untersucht. Aber es gab keinerlei Hinweise auf einen Eindringling. Nicht die geringste Spur.
»Ein sehr gerissener Typ«, meinte Reacher.
Harper erwiderte nichts. Er schob die Akte Callan beiseite
und nahm sich die Akte Cooke vor. Der erste Teil war in einem ähnlich nüchternen Ton
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