Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
gehalten wie bei Callan. Aber bei ihr war die Situation insofern anders gewesen, als sie von vornherein zur Army hatte gehen wollen. Ihr Großvater und Vater hatten bei der Army gedient, und daraus kann eine neue militärische Elite erstehen, jedenfalls stellt man sich das in manchen Familien so vor. Sie hatte offenbar ziemlich schnell erkannt, dass ihr Geschlecht der von ihr angestrebten militärischen Laufbahn im Weg stand, denn in ihrer Akte wurde eigens darauf hingewiesen, dass sie bereits auf der Highschool um Aufnahme ins Reserveoffiziersausbildungskorps ersucht hatte.
Als Offiziersanwärterin fing sie gleich als Second Lieutenant an und war sofort beim Planungsstab gelandet, wo kluge Köpfe ihre Zeit mit allerlei Mutmaßungen darüber verschwenden, dass die Verbündeten im Ernstfall zu einem stehen und der Gegner sich feindselig verhalten wird. Sie war zum First Lieutenant befördert und zum Nato-Hauptquartier in Brüssel versetzt worden und hatte dort eine Beziehung mit ihrem Colonel begonnen. Als sie nicht schnell genug zum Captain befördert wurde, zeigte sie ihn an.
Reacher konnte sich noch gut daran erinnern. Es war nicht um sexuelle Belästigung gegangen, jedenfalls nicht um Vorfälle, wie sie Callan ertragen musste. Sie war nicht von fremden Männern angegrapscht und gekniffen worden, niemand hatte ihr gegenüber anzügliche Gesten mit öligen Waffenläufen gemacht. Doch die Vorschriften waren wieder einmal geändert worden, und demnach durften vorgesetzte Offiziere nicht mehr mit Untergebenen schlafen. Deshalb wurde der Colonel belangt, worauf er sich mit seiner Pistole in den Mund schoss. Sie quittierte den Dienst, kehrte nach Hause zurück und zog in ein Cottage an einem See in New Hampshire, wo sie schließlich in einer Badewanne voller erstarrter Farbe tot aufgefunden wurde.
Die Pathologen und Kriminalisten in New Hampshire kamen
zu den gleichen Ergebnissen wie ihre Kollegen in Florida, das heißt, sie konnten nicht das Geringste feststellen. Die Fotos und Vermerke waren ähnlich, aber sie stammten von einem anderen Tatort. Ein graues, von Bäumen umgebenes Haus aus Zedernholz, die Tür nicht beschädigt, innen keinerlei Verwüstungen, ein rustikal eingerichtetes Badezimmer mit einer großen Wanne, die eine zähe, grüne Masse enthielt. Reacher überflog die Berichte und schlug den Ordner zu.
»Was halten Sie davon?«, fragte Harper.
»Ich finde die Farbe merkwürdig«, sagte Reacher.
»Wieso?«
Er zuckte die Achseln. »Sie macht so viele Umstände, nicht? Einerseits vernichtet sie eventuelle Körperspuren, was dem Täter entgegenkommt, andererseits läuft er Gefahr, dass er bei Beschaffung und Transport jemandem auffällt.«
»Und sie ist eine absichtlich hinterlassene Spur«, meinte Harper. »Sie unterstreicht das Tatmotiv. Sie bestätigt eindeutig, dass es sich um jemanden von der Army handelt. Sie ist eine Art zynischer Hinweis.«
»Lamarr sagt, sie hat eine psychologische Bedeutung. Er will damit ausdrücken, dass sie eigentlich zum Militär gehören.«
Harper nickte. »Deshalb nimmt er auch ihre Kleidung mit.«
»Aber wenn er sie so sehr hasst, dass er sie umbringt, warum will er sie dann wieder beim Militär haben?«
»Keine Ahnung. Wer weiß denn schon, was in so einem Kerl vorgeht?«
»Lamarr glaubt, sie wisse es«, versetzte Reacher.
Lorraine Stanleys Akte kam zuletzt an die Reihe. Ihr war es so ähnlich ergangen wie Callan, aber der Vorfall lag nicht so lange zurück. Sie war jünger und Sergeant gewesen, der rangniedrigste Unteroffizier in einem riesigen Versorgungslager in Utah, die einzige Frau vor Ort. Man hatte sie vom ersten
Tag an schikaniert. Eines Nachts war jemand in ihre Unterkunft eingebrochen und hatte ihre sämtlichen Uniformhosen gestohlen. Am nächsten Morgen meldete sie sich in ihrem Ausgehrock zum Dienst. In der darauf folgenden Nacht stahl man ihr sämtliche Unterwäsche. Am nächsten Morgen trug sie den Rock, aber nichts darunter. Ihr vorgesetzter Lieutenant zitierte sie in sein Büro, ließ sie in Grundstellung antreten, die Füße zu beiden Seiten eines großen Spiegels, der am Boden lag, während er sie wegen irgendwelchen Unstimmigkeiten beim Papierkram zusammenstauchte. Unterdessen kam nacheinander das ganze Personal ins Büro marschiert, ergötzte sich an dem Anblick, der sich im Spiegel bot, und verzog sich wieder. Der Lieutenant landete im Bau, und Stanley schied ein Jahr darauf aus dem Dienst und wohnte allein in dem auf den Tatortfotos
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