Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
schien, und es regnete nicht mehr. Einen Moment lang hoffte er, dass dies ein gutes Zeichen wäre. War es aber nicht. Er wusste es, sobald er die Cafeteria betrat.
Blake saß allein an dem Tisch beim Fenster. Eine Kanne Kaffee stand dort, dazu drei umgedrehte Tassen, ein Korb mit Sahne und Zucker und ein zweiter mit Donuts und gefüllten Hörnchen. Die Sonntagszeitungen, die aufgeschlagen auf dem Tisch verstreut waren, verhießen nichts Gutes, zumal die Washington Post , USA Today und die New York Times offen herumlagen. Das hieß, dass es keine Nachrichten aus New York gab. Was wiederum hieß, dass es noch nicht geklappt hatte, und das bedeutete, dass er weiter warten musste, bis es so weit war.
Da sie nur zu dritt am Tisch saßen, hatten sie mehr Ellbogenfreiheit. Harper nahm gegenüber von Blake Platz, und Reacher setzte sich neben sie. Blake wirkte alt, müde und abgespannt. Regelrecht krank, so als könnte er jeden Moment einen Herzanfall bekommen. Aber Reacher verspürte
kein Mitleid mit ihm. Blake hatte gegen die Regeln verstoßen.
»Heute nehmen Sie sich die Akten vor«, sagte Blake.
»Meinetwegen«, erwiderte Reacher.
»Sie enthalten das neueste Material über Lorraine Stanley. Die lesen Sie heute durch, und bei der morgigen Frühstücksbesprechung teilen Sie uns mit, zu welchen Schlüssen Sie gelangt sind. Ist das klar?«
Reacher nickte. »Absolut.«
»Gibt es etwas im Voraus, das ich wissen sollte?«
»Was sollte es im Voraus geben?«
»Erkenntnisse. Ist Ihnen schon etwas eingefallen?«
Reacher warf einen kurzen Blick zu Harper. Das war der Punkt, an dem eine beflissene Agentin ihren Vorgesetzten über seine Einwände informiert hätte. Aber sie schwieg. Blickte nur auf den Tisch und war damit beschäftigt, ihren Kaffee umzurühren.
»Lassen Sie mich erst die Akten lesen«, sagte er. »Es ist noch zu früh, um was zu sagen.«
Blake nickte. »Wir haben noch sechzehn Tage Zeit. Demnächst müssen wir aber ein gutes Stück vorankommen.«
Reacher nickte seinerseits. »Ich hab’s kapiert. Vielleicht bekommen wir morgen ein paar gute Nachrichten.«
Blake und Harper starrten ihn an, als hätte er etwas Sonderbares gesagt. Dann widmeten sie sich dem Kaffee, den Donuts und den Hörnchen, nahmen sich die Zeitungen vor und lasen sie in aller Ruhe, als müssten sie die Zeit totschlagen. Es war Sonntag, und die Ermittlungen waren ins Stocken geraten. Reacher kannte die Zeichen. Egal, wie dringend eine Sache auch sein mag, irgendwann kommt der Punkt, an dem man nicht mehr weiterkommt. Der Druck lässt nach, und man sitzt da, als hätte man alle Zeit der Welt, während das Leben um einen weiterrast.
Nach dem Frühstück führte Harper ihn in ein Zimmer, das fast genauso aussah, wie er es sich vorgestellt hatte, als er in der Cessna saß. Es lag über der Erde, war ruhig und stand voller heller Eichentische und bequemer, mit Leder gepolsterter Sessel. Sonnenstrahlen fielen durch die verglaste Außenwand. Das einzig Unangenehme war der etwa dreißig Zentimeter hohe Stapel Akten, der auf einem der Tische lag. Sie steckten in dunkelblauen Ordnern, auf denen in gelben Lettern FBI stand.
Der Stapel war in drei Packen unterteilt, die jeweils von einem dicken Gummiring zusammengehalten wurden. Er breitete sie nebeneinander auf dem Tisch aus. Amy Callan, Caroline Cooke, Lorraine Stanley. Drei Opfer, drei Packen. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Zehn Uhr fünfundzwanzig. Sie waren spät dran. Die Sonne wärmte das Zimmer. Ihm war eher nach Faulenzen zumute.
»Sie haben es noch nicht bei Jodie versucht«, sagte Harper.
Er schüttelte den Kopf, gab aber keine Antwort.
»Wieso nicht?«
»Sinnlos. Sie ist offensichtlich nicht da.«
»Vielleicht ist sie zu Ihrem Haus gefahren. Wo ihr Vater gewohnt hat.«
»Vielleicht«, sagte er. »Aber ich bezweifle es. Ihr gefällt es dort nicht. Zu abgeschieden.«
»Haben Sie es schon versucht?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Machen Sie sich Sorgen?«
»Ich kann mir nicht um irgendwas Sorgen machen, das ich nicht ändern kann.«
Sie sagte nichts. Schweigend zog er einen Aktenordner heran.
»Haben Sie die gelesen?«, fragte er.
Sie nickte. »Jede Nacht. Ich habe sämtliche Akten und Zusammenfassungen gelesen.«
»Steht da was drin?«
Sie blickte auf die Packen, von denen jeder etwa zehn Zentimeter dick war. »Jede Menge sogar.«
»Was von Bedeutung?«
»Das müssen Sie feststellen«, sagte sie.
Er nickte widerwillig und streifte den Gummiring von der
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