Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Pistole. Er lud sie mit sechs Schuss und gab sie ihr zurück, dazu zwei Paar Ohrenschützer.
»Nehmen Sie Stand drei«, wies er sie an.
Stand drei lag genau in der Mitte. Am Boden war ein schwarzer Strich eingezeichnet.
»Fünfundzwanzig Meter«, sagte Harper.
Sie ging in Position und setzte die Ohrenschützer auf. Fasste die Waffe mit zwei Händen und legte sie an. Sie spreizte die Beine, drückte die Knie leicht durch, schob die Hüfte vor und nahm die Schulter zurück. In rascher Folge, mit etwa einer halben Sekunde Abstand zwischen den einzelnen Schüssen, drückte sie sechsmal ab. Reacher betrachtete die straffen Sehnen an ihrer Hand, die jedes Mal kurz zuckten, wenn sie die bockende Waffe wieder ausrichtete.
»Frei«, sagte sie.
Er sah sie an.
»Das heißt, dass Sie die Scheibe holen können«, meinte sie.
Er schätzte, dass die Schüsse auf einer rund dreißig Zentimeter langen Linie senkrecht übereinander lagen. Und genau so war es auch, wie er feststellte, als er zum anderen Ende des Schießstands kam. Zwei Treffer saßen mitten im Herz, zwei im nächsten Ring und zwei im darauf folgenden, der sich über Kehle und Bauch zog. Er nahm die Scheibe ab und brachte sie zurück.
»Zwei Fünfer, zwei Vierer, zwei Dreier«, sagte sie. »Vierundzwanzig Punkte. Ich habe knapp bestanden.«
»Sie sollten den linken Arm mehr belasten«, sagte er.
»Wie?«
»Stützen Sie die Waffe mit der linken Hand ab, und benutzen Sie die rechte nur zum Abdrücken.«
Sie zögerte.
»Zeigen Sie’s mir«, bat sie.
Er trat dicht hinter sie, griff mit dem linken Arm um sie herum und umfasste ihre Hand, als sie mit der rechten die Waffe anlegte.
»Den Arm locker lassen«, sagte er. »Überlassen Sie mir das Abstützen.«
Er hatte lange Arme, aber ihre waren kaum kürzer. Sie schob den Fuß zurück und drückte sich an ihn. Er beugte sich vor, legte das Kinn seitlich an ihren Kopf. Ihre Haare rochen gut.
»Okay, los geht’s«, sagte er.
Sie drückte ein paar Mal den Abzug durch. Die ungeladene Waffe lag ruhig in ihrer Hand.
»Fühlt sich gut an«, sagte sie.
»Besorgen Sie sich noch ein paar Patronen.«
Sie löste sich von ihm, ging zum Kabuff des Waffenmeisters und ließ sich ein neues, ebenfalls mit sechs Schuss geladenes Magazin geben. Er begab sich zum nächsten Schießstand, wo eine frische Scheibe hing, und wartete dort auf sie. Sie lehnte sich an ihn und hob die Waffe. Er griff um sie herum, umfasste ihre Schusshand und stützte sie ab. Sie lehnte sich noch weiter zurück, drückte zweimal ab. Er sah, dass beide Treffer im inneren Ring landeten, etwa zweieinhalb Zentimeter voneinander entfernt.
»Sehen Sie?«, sagte er. »Sie müssen die Linke einsetzen.«
»Klingt wie eine politische Aussage.«
Sie blieb stehen, lehnte sich weiter an ihn. Er konnte spüren, wie sie atmete. Dann trat er einen Schritt zurück, und sie versuchte es noch einmal, jetzt allein. Zwei Schüsse
in rascher Folge. Klirrend landeten die ausgeworfenen Hülsen auf dem Betonboden. Zwei weitere Löcher taten sich im Herzring auf, so dicht bei den beiden anderen, dass man alle vier mit einer Visitenkarte hätte abdecken können.
Sie nickte. »Wollen Sie die zwei letzten abfeuern?«
Sie trat zu ihm und reichte ihm die Pistole mit dem Griff voran. Es war eine SIG-Sauer, die gleiche Waffe, die Lamarr auf der Autofahrt nach Manhattan auf seinen Kopf gerichtet hielt. Er stellte sich mit dem Rücken zur Scheibe, wog die Pistole in der Hand. Dann wirbelte er herum und drückte zweimal ab, jagte dem Pappkameraden je eine Kugel in die Augen.
»So würde ich das machen«, sagte er, »wenn ich einen Brass auf jemand hätte. Ich würde mich nicht mit einer verdammten Badewanne und hundert Litern Farbe rumschlagen.«
Auf dem Rückweg zum Leseraum begegneten sie Blake. Er wirkte verwirrt, fahrig und zugleich besorgt. Offenbar gab es ein neues Problem.
»Lamarrs Vater ist tot«, sagte er.
»Ihr Stiefvater«, verbesserte ihn Reacher.
»Was auch immer. Er ist heute früh gestorben. Jemand aus dem Krankenhaus in Seattle wollte sie sprechen. Ich muss sie gleich zu Hause anrufen.«
»Richten Sie ihr unser Beileid aus«, bat Harper.
Blake nickte geistesabwesend und ging.
»Er sollte sie von dem Fall abziehen«, meinte Reacher.
Harper nickte. »Vielleicht sollte er das, aber er wird es nicht tun. Und sie wäre ohnehin nicht einverstanden. Ihr Beruf ist alles, was sie hat.«
Reacher sagte nichts. Harper zog die Tür auf und geleitete ihn wieder zu
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