Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
darunter vorbeiführenden Straße an.
»Kriegen Sie jetzt Ärger?«, fragte er.
»Weil ich Sie nicht zurückbringe? Vermutlich.«
Er schwieg. Sie lächelte.
»Das war Versuch Nummer zehn«, sagte sie. »Niemand wird mich deswegen behelligen.«
»Das will ich doch hoffen«, meinte er und stieg aus. Er
überquerte die Straße, ging die Auffahrt in Richtung Norden, stellte sich an die Autobahn und schaute ihr nach, bis der Wagen unter der Brücke verschwand und auf der anderen Seite in Richtung Süden davonfuhr.
Ein Tramper, der einen Meter fünfundneunzig groß und über hundert Kilo schwer ist, wird nicht so ohne weiteres mitgenommen. Frauen halten normalerweise überhaupt nicht an, weil sie sich fürchten, aber auch Männer überlegen es sich eher zweimal. Aber Reacher war geduscht, frisch rasiert, sauber und ordentlich gekleidet. Dadurch stiegen seine Chancen, zumal ziemlich viele Lastwagen mit kräftigen, selbstbewussten Fahrern unterwegs waren, so dass er knapp sieben Stunden später in New York ankam.
Er schwieg fast sieben Stunden lang, weil es in den Lastern einerseits zu laut war, um sich zu unterhalten, und weil er andrerseits keine Lust dazu hatte. Der alte Wandertrieb meldete sich wieder zu Wort. Wo willst du denn hin? Zurück zu Jodie natürlich. Okay, du Schlauberger, aber was dann? Was kommt denn dann? Willst du etwa den Garten hinter dem Haus bestellen? Die Wände streichen? Er saß neben den diversen Fahrern, die ihn mitnahmen, und spürte, wie seine kurze Freude darüber, dass er endlich wieder seine Freiheit genießen konnte, allmählich dahinschwand. Er versuchte, das mulmige Gefühl zu verdrängen, aber es dauerte eine Zeit lang, bis es ihm gelang. Das letzte Stück legte er mit einem Gemüselaster zurück, der eine Lieferung von New Jersey ins Greenwich Village brachte. Nachdem sie durch den Holland Tunnel gerumpelt waren, stieg er aus, lief etwa eine Meile weit die Canal Street und den Broadway entlang bis zu dem Apartmentgebäude, in dem Jodie wohnte, und versuchte, nur daran zu denken, wie sehr er sich nach ihr sehnte.
Er fuhr mit dem Aufzug nach oben und klingelte an ihrem Apartment. Das Guckloch wurde kurz dunkel, dann ging die
Tür auf, und sie stand vor ihm, in Jeans und T-Shirt, groß und schlank und voller Lebenslust. So schön wie immer. Aber sie lächelte nicht.
»Hey, Jodie«, begrüßte er sie.
»Ein FBI-Agent sitzt in meiner Küche«, erwiderte sie.
»Warum?«
»Warum?«, wiederholte sie. »Vielleicht kannst du mir das erklären.«
Er folgte ihr in die Küche. Der FBI-Mann war ein kleiner Kerl mit Stiernacken. Blauer Anzug, weißes Hemd, gestreifter Schlips. Er hatte ein Handy am Ohr und berichtete allem Anschein nach jemandem, dass Reacher eingetroffen war.
»Was wollen Sie?«, herrschte Reacher ihn an.
»Ich möchte, dass Sie hier warten, Sir«, sagte der Typ. »Nur etwa zehn Minuten bitte.«
»Worum geht es?«
»Das werden Sie schon erfahren, Sir. In spätestens zehn Minuten.«
Reacher wäre am liebsten wieder gegangen, aber Jodie setzte sich. Sie wirkte irgendwie ungehalten. Die New York Times lag aufgeschlagen auf der Anrichte. Reacher warf einen kurzen Blick darauf.
»Okay«, sagte er. »Zehn Minuten.«
Er nahm ebenfalls Platz. Schweigend saßen sie da und warteten. Es dauerte keine zehn, sondern fast fünfzehn Minuten, bis jemand unten an der Haustür klingelte. Der FBI-Mann stand auf und ging zur Sprechanlage, betätigte den Türöffner und trat in den Flur hinaus. Jodie saß still und teilnahmslos da, als wäre sie zu Gast in ihrer eigenen Wohnung. Reacher hörte das Winseln des Aufzugs, hörte, wie es verstummte, wie die Tür zu dem Apartment geöffnet wurde. Dann nahten Schritte.
Alan Deerfield trat in die Küche. Er trug einen dunklen Regenmantel mit hochgeschlagenem Kragen. Er wirkte energisch und angriffslustig, zumal die Schottersteine, die er
sich unten auf dem Gehsteig in die Sohlen getreten hatte, bei jedem Schritt laut über den Boden scharrten.
»In meiner Stadt hat es sechs Tote gegeben«, begann er. Er sah die Times auf der Anrichte liegen, nahm sie und faltete sie so zusammen, dass die Schlagzeile zu sehen war. »Deshalb habe ich ein paar Fragen, was sich wohl von selbst versteht.«
Reacher schaute ihn an. »Was für Fragen?«
Deerfield erwiderte seinen Blick. »Heikle Fragen.«
»Dann schießen Sie los.«
Deerfield nickte. »Die erste Frage ist an Miss Jacob gerichtet.«
Jodie regte sich, blickte aber nicht auf.
»Wie lautet die
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