Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
zuckte die Achseln. »Auf Stützpunkten der Army, in allen möglichen Winkeln der Welt, genau wie ich.«
Sie nickte. »Wo hast du mich kennen gelernt?«
»Das weißt du doch. In Manila. Auf dem Stützpunkt.«
»Kannst du dich noch an den Bungalow erinnern?«
»Selbstverständlich.«
Sie nickte. »Ich auch. Er war winzig, er war muffig, und
er wimmelte von Kakerlaken, die größer als meine Hand waren. Und weißt du was? Das war das schönste Zuhause, das ich als Kind je erlebt habe.«
»Und?«
Sie deutete auf ihren Aktenkoffer. Es war ein lederner Pilotenkoffer, voll gepackt mit Dokumenten und Schriftsätzen, der unmittelbar hinter der Tür an der Küchenwand lehnte. »Was ist das?«
»Dein Aktenkoffer.«
»Ganz genau. Kein Gewehr, kein Karabiner, kein Flammenwerfer.«
»Und?«
»Und ich lebe in einem Apartment in Manhattan, nicht auf einem Militärstützpunkt, und ich trage auch keine Infanteriewaffe, sondern einen Aktenkoffer.«
Er nickte. »Das weiß ich doch.«
»Aber weißt du auch, warum?«
»Weil du es so willst, nehme ich an.«
»Genau. Weil ich es so will. Ich habe mich bewusst dafür entschieden. Es war mein Wunsch. Ich bin bei der Army aufgewachsen, genau wie du, und ich hätte mich freiwillig melden können, genau wie du. Aber ich wollte nicht. Ich wollte aufs College und Jura studieren. Ich wollte zu einer großen Kanzlei gehen und es zu etwas bringen. Und warum wohl?«
»Warum?«
»Weil ich in einer Welt leben wollte, in der Regeln und Gesetze gelten.«
»Bei der Army gibt’s jede Menge Regeln und Gesetze.«
»Aber die falschen, Reacher. Ich wollte Grundrechte, bürgerliche Rechte, zivile Rechte und Regeln. Gesetze, an die sich jeder zivilisierte Mensch hält.«
»Und was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass ich mich vor vielen Jahren von der Army verabschiedet habe und jetzt nicht wieder dorthin zurück will.«
»Das musst du auch nicht.«
»Aber du gibst mir das Gefühl, als ob ich wieder mittendrin stecken würde. Schlimmer noch. Diese Sache mit Petrosian zum Beispiel. Ich will nicht in einer Welt leben, in der solche Regeln gelten. Das weißt du ganz genau.«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«
»Du hättest dich von Anfang an nicht darauf einlassen dürfen. An diesem Abend im Restaurant zum Beispiel hättest du einfach weggehen und die Polizei verständigen sollen. So verhält man sich hier.«
»Hier?«
»Unter zivilisierten Menschen.«
Er setzte sich auf einen Küchenhocker und stützte die Unterarme auf die Anrichte, legte die Hände flach auf die kalte Platte und spreizte die Finger. Sie bestand aus einer Art grauem, glatt geschliffenem Granit, in dem rundum Gneis-und Glimmereinsprengsel funkelten. Die Ecken und Kanten waren abgerundet. Sie war etwa anderthalb Zentimeter dick und hatte vermutlich ein Heidengeld gekostet. Ein Kunstwerk, hergestellt für eine zivilisierte Welt, in der Menschen bereit waren, vierzig, siebzig oder hundert Stunden pro Woche zu arbeiten, damit sie genug verdienten, um sich eine schöne Kücheneinrichtung für ihre schmucken Wohnungen hoch über dem Broadway leisten zu können.
»Wieso hast du mich nicht mehr angerufen?«, fragte sie.
Er starrte auf seine Hände. Auf dem blank polierten Granit wirkten sie wir knorrige Wurzeln.
»Ich habe gedacht, du wärst in Sicherheit, hättest dich irgendwo versteckt«, sagte er.
»Du hast es gedacht«, erwiderte sie. »Aber du hast es nicht gewusst.«
»Ich hab’s angenommen. Ich bin davon ausgegangen, dass du auf dich aufpasst, während ich mich um Petrosian kümmere. Ich dachte, wir kennen uns so gut, dass wir uns aufeinander verlassen können.«
»Als ob wir Kameraden wären«, sagte sie leise. »In der gleichen Einheit, ein Major und ein Captain vielleicht, mitten in einem gefährlich Einsatz, bei dem es darauf ankommt, dass jeder für sich seine Aufgabe erledigt.«
Er nickte. »Genau.«
»Aber ich bin kein Captain. Ich bin nicht beim Militär. Ich bin Anwältin. Ich lebe in New York, ich bin allein und habe Angst, und ich werde in etwas hineingezogen, mit dem ich nichts zu tun haben will.«
Wieder nickte er. »Tut mir Leid.«
»Und du bist kein Major«, sagte sie. »Nicht mehr. Du bist Zivilist. Du musst dir darüber klar werden.«
Er nickte. Schwieg.
»Und genau das ist der Knackpunkt, oder?«, fuhr sie fort. »Das gilt für uns beide. Du ziehst mich in etwas hinein, mit dem ich nichts zu tun haben will, und ich ziehe dich in etwas hinein, was du nicht willst.
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