Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
gönnen sollen. Du hättest sie singen lassen können. Oder tanzen! Du hättest länger bei ihr bleiben können. Niemand konnte auch nur das Geringste hören.
Aber du hast es nicht getan, weil feste Verhaltensmuster wichtig sind. Die Muster schützen dich. Du überlegst dir vorher alles ganz genau, du übst, du probst und verlässt dich aufs Altbewährte. Du hast dir ein Muster ausgedacht, an das du dich selbst unter widrigsten Umständen halten kannst – vermutlich war das die Stanley in ihrem scheußlichen kleinen Reihenhaus in San Diego. Rundum Nachbarn! Lauter kleine Holzhütten, alle dicht an dicht! Halte dich an das Muster, das ist der Schlüssel. Und denke weiter nach. Überlege, überlege hin und her. Plane im Voraus. Plane weiter. Vier hast du erledigt, und selbstverständlich hast du ein Recht darauf, die Taten ein ums andere Mal Revue passieren zu lassen, sie eine Zeit lang zu genießen, auszukosten, aber dann musst du dich davon losreißen, es dabei bewenden lassen und Nummer fünf vorbereiten.
Das Bordmenü war durchaus angemessen für eine Flugreise, die etwa zwischen Mittag- und Abendessen begann und durch sämtliche Zeitzonen Nordamerikas führte. Es bestand hauptsächlich aus süßem Blätterteiggebäck, das mit Schinken und Käse gefüllt war. Harper hatte keinen Hunger, so dass Reacher ihre Portion ebenfalls verspeiste. Danach stärkte er sich mit Kaffee und hing wieder seinen Gedanken nach. Er dachte vor allem an Jodie. Aber wollen wir auch unser Leben miteinander teilen? Zuerst musst du dir über dein Leben im Klaren werden. Ihres ließ sich ziemlich leicht auf den Punkt bringen. Sie war Anwältin, Besitzerin einer Eigentumswohnung, Geliebte, mochte moderne Kunst und den Jazz der fünfziger Jahre. Sie wollte in geregelten Verhältnissen leben, weil sie genau wusste, was es bedeutete, wenn man heimatlos und ohne Wurzeln war. Wenn
jemand auf dieser Welt regelrecht dafür geschaffen war, im vierten Stock eines alten Apartmentgebäudes am Broadway zu wohnen, wo es rundum Museen, Galerien und Kellerklubs gab, dann war es Jodie.
Aber was war mit ihm? Was machte ihm Spaß? Mit ihr zusammen zu sein selbstverständlich. Daran gab es keinen Zweifel. Nicht den geringsten. Er dachte an den Tag im Juni, als er ihr wieder begegnet war, konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als sein Blick auf sie gefallen war und er begriffen hatte, wer sie war. Er hatte das Gefühl gehabt, als träfe ihn der Blitz, und beim bloßen Gedanken daran stellte es sich sofort wieder ein. So etwas hatte er vorher nur selten erlebt.
Doch ganz unbekannt war es ihm nicht gewesen. Nach seinem Ausscheiden bei der Army war es ihm ab und zu ähnlich ergangen, wenn er in Städten, von denen er noch nie gehört hatte, aus dem Bus gestiegen war, die Sonne auf dem Rücken und den Staub unter seinen Füßen gespürt, die endlosen, schnurgeraden Straßen vor Augen gehabt hatte. Wenn er zerknüllte Dollarscheine von seiner Geldrolle gepult und auf die Rezeptionstische einsamer Motels geblättert, die schweren alten Messingschlüssel entgegengenommen hatte, wenn ihm der muffige Geruch der billigen Zimmer in die Nase gestiegen war und die Federn geknarrt hatten, als er sich irgendwo auf irgendeinem fremden Bett niederließ. Er konnte sich genau an dieses Gefühl erinnern. Und an die alten Diner mit den stets fröhlichen, neugierigen Bedienungen. An die kurzen Gespräche mit den Fernfahrern, die ihn mitnahmen, an all die Zufallsbekanntschaften, die sich ergeben, wenn sich zwei Menschen auf diesem von Milliarden bevölkerten Planeten am Wegesrand begegnen. Es war ein unstetes Leben. Aber es hatte seinen ureigenen Reiz, und der prägte einen Gutteil seiner Persönlichkeit. Er sehnte sich danach, wenn er in Garrison festsaß oder bei Jodie in der Stadt weilte. Er sehnte sich geradezu schmerzlich
danach. Fast so schmerzlich, wie er sich in diesem Augenblick nach ihr sehnte.
»Kommen Sie voran?«, fragte ihn Harper.
»Was?«, sagte er.
»Sie waren völlig in Gedanken. Haben mich gar nicht mehr wahrgenommen.«
»Aha?«
»Worüber haben Sie nachgedacht?«
Er zuckte die Achseln. »Über allerlei Widrigkeiten und Unwägbarkeiten.«
Sie starrte ihn an. »Na ja, damit kommen wir aber nicht weiter. Denken Sie lieber an etwas anderes, okay?«
»Okay.«
Er wandte sich ab und versuchte, nicht mehr an Jodie zu denken. Wollte sich mit etwas anderem befassen.
»Das Auskundschaften«, sagte er plötzlich.
»Was ist damit?«
»Wir gehen
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