Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
davon aus, dass er sie zunächst beobachtet, nicht wahr? Mindestens einen Tag. Vielleicht hatte er sich aber bereits irgendwo dort versteckt, als wir da waren.«
Sie erschauderte. »Gruslig. Aber worauf wollen Sie hinaus?«
»Überprüft die Motels, nehmt euch die Anmeldeformulare vor, erkundigt euch bei den Nachbarn. Klemmt euch dahinter. Nur so kommt ihr weiter. Durch kriminalistische Arbeit, nicht durch irgendwelche Zaubertricks in einer unterirdischen Kammer in Virginia.«
»Es gibt keine Nachbarn. Sie waren doch dort. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte. Das versuche ich Ihnen doch ständig klar zu machen.«
»Und ich versuche euch ständig klar zu machen, dass es immer irgendwelche Anhaltspunkte gibt.«
»Ja, ja. Dass er gerissen ist, keinerlei Spuren hinterlässt, dazu die Farbe, die geografische Lage der Tatorte.«
»Genau. Ich meine das ernst. Diese vier Hinweise werden
euch zu ihm führen. Ist Blake ebenfalls nach Spokane geflogen?«
Sie nickte. »Wir treffen uns mit ihm am Tatort.«
»Dann muss er das machen, was ich ihm sage, sonst verschwinde ich gleich wieder.«
»Treiben Sie’s nicht zu weit, Reacher. Sie sind unser Verbindungsmann zur Army, kein Ermittler. Und er steckt ziemlich in der Klemme. Er kann Sie dazu zwingen, dass Sie dort bleiben.«
»Er kann mich nicht mehr unter Druck setzen.«
Sie verzog das Gesicht. »Verlassen Sie sich nicht darauf. Deerfield und Cozo sind dabei, nach den Chinesen zu suchen, die Sie belasten könnten. Sie werden die Einwanderungsbehörde darum bitten, nach Illegalen Ausschau zu halten, worauf man allein in den Küchen der Chinarestaurants ein paar tausend Mann aufspüren wird. Wenn man denen klar macht, dass sie ausgewiesen werden, aber gleichzeitig anklingen lässt, dass sich das vermeiden ließe, wenn sie uns ein bisschen entgegenkommen, werden die Bosse der Tongs ihren Jungs befehlen, alles auszuspucken, was wir von ihnen wissen wollen. Das Bestmögliche für alle Beteiligten.«
Reacher erwiderte nichts.
»Das FBI setzt seinen Willen immer durch«, fügte Harper hinzu.
Aber der Haken dabei ist, dass sich allmählich leise Zweifel einschleichen, wenn man dasitzt und alles noch einmal Revue passieren lässt. Man geht die Sache ein ums andere Mal durch und kann sich nicht mehr genau erinnern, ob man wirklich all das getan hat, was man hätte tun sollen. Man sitzt allein da und denkt nach, überlegt hin und her, und mit der Zeit wird alles ein bisschen verschwommen. Aber je mehr man sich fragt, ob man alles richtig gemacht hat, desto unsicherer wird man. Es geht nur um Kleinigkeiten.
Hast du dies getan? Hast du das gesagt? Du weißt, dass du es in Callans Haus gemacht hast. Das weißt du ganz genau. Und auch bei Caroline Cooke. Ja, unbedingt. Das weißt du ebenfalls ganz genau. Und bei Lorraine Stanley in San Diego auch. Aber was ist mit Alison Lamarr? Hast du es dort ebenfalls getan? Oder dafür gesorgt, dass sie es tut? Hast du es gesagt? Ja oder nein?
Du bist dir völlig sicher, dass du es getan hast, aber vielleicht kommt es dir im Nachhinein nur so vor. Möglicherweise gehst du nur deshalb davon aus, dass alles so gewesen ist wie immer, weil du dich stets an das gleiche Muster hältst. Vielleicht hast du diesmal etwas vergessen. Du bekommst es mit der Angst zu tun. Du bist mehr und mehr davon überzeugt, dass du etwas vergessen hast. Du denkst scharf nach. Und je mehr du darüber nachdenkst, desto klarer wird dir, dass du es nicht gemacht hast. Diesmal nicht. Das ist nicht weiter schlimm, solange du ihr gesagt hast, dass sie es an deiner Stelle tun soll. Aber hast du das getan? Hast du es ihr gesagt? Hast du es ihr ausdrücklich aufgetragen? Möglicherweise nicht. Was dann?
Du reißt dich zusammen und sagst dir, dass du nur die Ruhe bewahren musst. Jemand mit deinem übermenschlichen Können soll unsicher und irritiert sein? Lächerlich. Absurd! Folglich verdrängst du es. Aber es lässt dich nicht los. Es nagt an dir. Wächst sich immer mehr aus, macht dir mehr und mehr zu schaffen. Und am Ende sitzt du da, in kalten Schweiß gebadet, und bist dir völlig sicher, dass du den ersten kleinen Fehler begangen hast.
Blake hatte den Learjet des FBI, mit dem er und sein Team von der Andrews Air Force Base nach Spokane geflogen waren, nach Seattle geschickt, wo er Harper und Reacher abholen sollte. Ihr alter Bekannter von der Außenstelle Seattle nahm sie oben an der Fluggastbrücke in Empfang und brachte sie über eine Seitentreppe nach draußen
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