Zeit der Raubtiere
ich nicht. Ich glaube, er war bei dem Polizisten, der dem Sheriff alles erzählt hat.«
»Ist er nicht mit dir nach Hause?« Hughes drehte sich zu seiner Tochter um.
»Hallo, Onkel Hughes.«
Hughes sah auf. Ed stand in der Tür.
»Hallo, Ed«, sagte Hughes ohne große Begeisterung. »Ich höre gerade, dass du dem Sheriff geholfen hast.«
»Ja«, sagte Ed.
»Das hast du gut gemacht.«
Hughes goss die Milch in einen Becher und gab ihn Daisy.
»Ihr solltet jetzt wirklich ins Bett, es ist spät.« Er legte Daisy eine Hand auf die Schulter und sah Ed an. Der Junge blinzelte als Erster.
Nick wartete unten an der Treppe. Sie reichte Hughes einen Gin Tonic.
»Sag deiner Mutter gute Nacht!«
»Gute Nacht, Mummy.«
»Gute Nacht, Daisy.«
Daisy ging die Treppe hinauf, aber Ed blieb stehen.
»Du auch, Ed«, sagte Hughes.
»Gute Nacht, Tante Nick«, sagte Ed, aber er sah Hughes dabei an.
Hughes stellte sich ein kleines Stück vor seine Frau. Die Härchen an seinen Armen richteten sich ein wenig auf.
»Gute Nacht«, sagte Nick.
Hughes blickte Ed nach, bis der Junge hinter dem Treppenabsatz verschwunden war. Dann wandte er sich zu Nick.
»Wo ist Helena?«
»Schläft.« Nick machte eine Kopfbewegung in Richtung Wohnzimmer. »Was hat Avery gesagt?«
»Ich habe es versucht, aber er kommt nicht, Nick«, log Hughes. »Sonderlich besorgt hat er offen gestanden nicht gewirkt. Redete irgendetwas Wirres von Charakterbildung daher.«
»Spinner«, sagte Nick und presste sich den Tumbler an die Stirn.
Von der Tür her ertönte ein Seufzer, und beide drehten sich um. Helena stand da und beobachtete sie, einen Scotch in der Hand.
»Entschuldige, Süße«, sagte Nick und folgte Helena ins Wohnzimmer.
Helena ging zu der Karaffe und schenkte sich nach. »Er hat sehr viel zu tun«, sagte sie.
Nick warf Hughes einen Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. Avery war Helenas Problem. Wenn sie sich unbedingt etwas in die eigene Tasche lügen wollte, sollte sie es tun. Er hatte andere Sorgen.
Nachdem er ein Kissen mit Gobelinstickerei – ein grimmig dreinblickender Tiger – zur Seite geschoben hatte, setzte er sich in den Ohrensessel. »So, meine Damen«, sagte er und schlug die Beine übereinander, »wie läuft es denn so diesen Sommer – mal abgesehen von der einen oder anderen Leiche?« Er grinste die beiden an, aber er war schon jetzt erschöpft.
Helena fixierte ihn, als hätte sie die Frage nicht verstanden.
»Du kannst so aalglatt sein, Schatz«, sagte Nick.
Es war leichthin gesagt, aber trotz ihres hübschen grünen Kleides und der Cocktails sah Hughes eine neue Zerbrechlichkeit, fast etwas Splitterndes. Am liebsten wäre er zu ihr gegangen, um sie zu halten, wie er Daisy immer gehalten hatte, wenn sie als kleines Kind aus einem Alptraum erwacht war und er den aufgeschreckten kleinen Körper an sich drückte.
Ihm kam eine Erinnerung an die erste Zeit ihrer Ehe, die Zeit, als er auf seine Einberufung wartete. Er studierte damals Jura und hatte immense Schwierigkeiten mit einem Professor, der nicht glaubte, dass aus ihm jemals etwas werden würde, am allerwenigsten ein guter Anwalt. Eines Abends ging er mit dem düsteren Gedanken an ein mögliches Scheitern nach Hause und bekam vor dem Eingangstor einen Schwall eiskalten Wassers ab. Erschrocken und wütend schaute er auf und sah Nick, die, den Gartenschlauch in der Hand, auf dem Rasen vor dem Haus stand und sich vor Lachen bog.
»Tut mir wirklich leid«, rief sie voller Freude über ihre eigene Fröhlichkeit. »Aber du warst gerade viel ernster, als dir guttut.«
Hughes sah auf seine durchnässte Hose und die vollgespritzten Schuhe hinunter.
»O nein, mein Schatz – jetzt siehst du ja noch verzweifelter drein!«
»Das merke ich mir«, sagte Hughes. »Und zahle es dir irgendwann heim, wenn du am wenigsten damit rechnest.«
Doch dann setzte er sich, immer noch nass, auf die Treppe und hielt Nicks Hand, bis der Himmel dunkel wurde und sie hineingingen und die Welt draußen vor der Tür ließen.
»Tja«, sagte Nick und brachte Hughes wieder in das Zimmer zurück, »die Party steht an, und ich habe noch nicht das Geringste vorbereitet.«
»Das habe ich am Kühlschrank gemerkt.« Hughes grinste, aber ganz sanft, damit sie es nicht in die falsche Kehle bekam.
»Ach, das …« Nick machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir haben uns ein bisschen treibenlassen, stimmt’s, Süße?« Sie sah zu Helena hinüber. »Bisschen Robinson Crusoe gespielt.«
»Ja«,
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