Zeit der Raubtiere
an unserem Hochzeitstag geliebt, als ich Dich oben fand, wo Du Dich wie ein unglückliches Kind verkrochen hattest. Und am allermeisten habe ich Dich in meiner Vorstellung geliebt, während ich auf diesem verfluchten Ozean hin und her fuhr und betete und darauf wartete, heimkommen zu können.
Ich bin nicht mehr der, der ich war, als ich vor einem Jahr zur Einsatzvorbereitung fuhr. Es sind Dinge passiert, auf die ich nicht stolz bin und die ich gern ungeschehen machen würde. Aber ich will, wenn ich zurückkomme, ein mindestens ebenso guter Mann sein wie der, als der ich ging. Ich will nicht mehr so tun, als wäre ich noch derselbe oder Du noch dieselbe oder wir noch dieselben. Ich will ehrlich sein mit Dir. Aber wenn ich das hier überstehe, verspreche ich, alles mir Mögliche zu tun, um unser Leben zu einem glücklichen zu machen, und zu versuchen, der Mann zu sein, den Du brauchst. Das verspreche ich Dir.
Nicky, ich liebe Dich.
Hughes
Er faltete das Blatt dreifach und steckte es in seine Brusttasche. Er gab den Stift zurück und bat das Mädchen um einen zweiten Kaffee. Die Wintersonne leuchtete blasssilbrig. Jetzt, nachdem er den Brief geschrieben hatte, war ihm leichter ums Herz; doch dann kehrten die Gedanken an Eva zurück. Er hatte sie ohne ein Wort verlassen. Er dachte an den Moment in der vergangenen Nacht, als er plötzlich glaubte, Eva zu kennen, nicht aus Erfahrung, sondern intuitiv. Er rieb sich die Augen. Er musste zurück und ihr erklären, dass es ein Fehler gewesen war. Dass sie beide angetrunken gewesen waren und sich hatten hinreißen lassen. Dass sie einsam gewesen waren und nur diese Einsamkeit sie zusammengebracht hatte. Wenn er ihr das nicht sagte, konnte er nicht mehr der Mann sein, der er sein wollte. Aber er hatte Angst davor, er hatte Angst, ihr in die Augen zu schauen und ihr zu sagen, dass all das umsonst gewesen war.
Er stand auf und verließ die Kantine, ging an den Läden vorbei, von denen einige geschlossen und verriegelt waren, während andere hoffnungsvoll einer wenig kaufkräftigen Kundschaft ihre Ware präsentierten. Einen betrat er und erstand ein Paar Kalbslederhandschuhe für Nick. Die würde er ihr schicken, aber nicht zusammen mit dem Brief, sondern später, zu ihrem Geburtstag vielleicht.
Dann war er plötzlich im Hyde Park, dessen kahle Äste sich scharf vom Himmel abhoben. Er setzte sich auf eine Bank und betrachtete die vorbeischlendernden Menschen. Ein G. I. stand an einen Baum gelehnt, hatte den Arm um ein Mädchen gelegt und zog es, so fest es ging, an sich. Hughes fiel wieder ein, dass Neujahr war. Er hätte sich um eine Pritsche in der Rotkreuzstation kümmern sollen. Aber das konnte er auch noch tun, nachdem er bei Eva gewesen war. Er durfte es jetzt nicht weiter aufschieben. Er klopfte seinen Mantel ab und eilte zurück ins Claridge’s.
Er ließ sich gar nicht erst bei ihr anmelden. Diesmal zögerte er nicht vor dem Aufzug, sondern betrat ihn sofort und wartete ungeduldig, bis der Liftboy die Kette vorgelegt hatte. Er wollte das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Er klopfte an die Tür von Zimmer 201. Eva öffnete und stand ihm in einem Morgenmantel gegenüber. Er sah sie an; sie trat beiseite und ließ ihn hinein.
»Ich war mir nicht sicher, ob du zurückkommen würdest«, sagte sie.
Es war kein Vorwurf, nur eine Feststellung. Da wusste Hughes, dass ihm der Brief egal war und auch der Krieg und auch sein Versuch, ein besserer Mensch zu werden. Es war ihm alles egal, nur das Gefühl nicht, das er in ihrer Nähe hatte.
»Ich auch nicht«, erwiderte er. »Aber ich bin zurückgekommen.«
»Ja.« Eva breitete die Arme aus. »Ja, du bist zurückgekommen.«
Als die Sonne ganz vom Himmel verschwunden war und das Dröhnen der V2 die Nacht wie ein Feuerwerk erschütterte, löste sich Hughes von der schlafenden Eva und stieg aus dem Bett. Im Dunkeln tastete er sich zu dem Stuhl, über dem seine Jacke hing, und griff in die Brusttasche. Er zog den Brief heraus und strich über das Papier, als würde es ihm etwas sagen, wenn er es berührte. Er ging ins Bad und drehte das Licht an. Einmal noch betrachtete er den Brief an Nick, dann zerriss er ihn und warf die Schnipsel in die Toilettenschüssel. Er sah zu, bis sie alle verschwunden, vom Druck der Spülung ins Dunkle gezogen waren. Dann machte er das Licht aus und legte sich wieder ins Bett.
Juli 1959
II
N ach Nicks Anruf, ihrem Bericht von dem toten Mädchen und dem in Tiger House
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