Zeit der Raubtiere
herrschenden Aufruhr, hatte Hughes an nichts anderes mehr denken können. Auf der ganzen Fahrt nach Woods Hole und auch auf der Fähre, den heißen Kaffee in der Hand, im gespenstischen Licht des Oberdecks, hatte er die Geschehnisse wieder und wieder Revue passieren lassen. Er war nur mit Müh und Not an Bord des letzten Schiffs gekommen, und die Island Queen hatte genau in dem Augenblick abgelegt, als die Sonne, noch einmal aufflackernd, unterging, um Meer und Himmel der Dunkelheit zu überlassen.
Nick hatte ihn beauftragt, dafür zu sorgen, dass Avery an die Ostküste kam, um sich um Ed und Helena zu kümmern. Doch Hughes hatte das nicht gewollt. Er hatte gehofft, Avery am Telefon dazu überreden zu können, Frau und Sohn nach Hause kommen zu lassen. Aber Avery hatte sich wie immer geheimnisvoll gegeben und war keine große Hilfe gewesen.
»So etwas bildet den Charakter«, sagte er, nachdem Hughes ihm von der Leiche erzählt hatte.
»Ich glaube nicht, dass so etwas den Charakter bildet«, entgegnete Hughes. »Ich glaube, du verstehst nicht ganz, worum es geht. Helena ist sehr aufgewühlt, und wir halten es für das Beste, wenn beide jetzt bei dir sein können.«
»Du meinst also zu wissen, was das Beste für meine Familie ist.«
»Das habe ich nicht behauptet.« Hughes hätte am liebsten den Hörer auf den Bibliothekstisch geschleudert. Er musste sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. »Aber du bist nun mal sehr weit weg und schätzt die Situation möglicherweise weniger gut ein, als du könntest.«
»Was sagst du da? Dass ich mich nicht um meine Familie kümmere? Ich bin weit weg, wie du es nennst, weil ich für meine Familie arbeite! Alles, was ich mache, mache ich für Helena und meinen Sohn, damit sie ein Leben kennenlernen, das nicht von den Einschränkungen der Konvention und von Unterwürfigkeit geprägt ist. Ich erwarte gar nicht, dass du das verstehst.«
»Was bist du für ein Arschloch, Avery. Nick macht sich Sorgen. Wenn du nicht willst, dass sie nach L. A. zurückfahren, dann komm doch du auf die Insel – nur für eine Woche oder so, falls du nicht länger wegkannst.« Er betete zu Gott, der Mann möge den Vorschlag ablehnen.
»Das geht im Moment nicht. Ich befinde mich an einem kritischen Punkt in meiner Arbeit.«
Hughes schwieg.
»Anders sähe es natürlich aus«, sagte Avery, als wäre ihm der Gedanke gerade erst gekommen, »wenn ihr mir das Geld für den Flug schicken würdet …«
»Scher dich zum Teufel!«, erwiderte Hughes und knallte den Hörer auf die Gabel.
In Bezug auf Avery hatte Nick von Anfang an recht gehabt. Der Mann war ein Scharlatan und hatte, kaum war er mit Helena verheiratet gewesen, Geld aus ihnen herauszupressen versucht. Genau das schätzte Hughes, neben anderem, so sehr an Nick: Niemals, unter keinen Umständen, würde sie diesem Mann auch nur einen müden Cent geben. Auf seine Frau konnte er sich verlassen, und dafür dankte er Gott in Zeiten wie diesen.
Nachdem sich Avery für nicht zuständig erklärt hatte, war Ed nun Hughes’ Problem. Als der Leuchtturm von Vineyard Haven auftauchte, hatte er sich einen zumindest skizzenhaften Schlachtplan zurechtgelegt. Er musste dafür sorgen, dass Ed so viel wie möglich außer Haus war. Hughes war bei den Pfadfindern gewesen und erinnerte sich, dass deren Aktivitäten die Jungen immer ganz in Anspruch genommen und müde gemacht hatten. Im besten Fall würden sie einen guten Einfluss auf das Kind ausüben, im schlechtesten eine Ablenkung darstellen, zumindest bis der Sommer zu Ende war. In der Zwischenzeit, so beschloss er, würde er in Tiger House bleiben und die Dinge im Blick behalten.
Inwiefern Ed in den Mord an dem Mädchen verwickelt war, konnte er nicht beurteilen. Vielleicht wusste der Junge etwas, vielleicht auch nicht. Mehr wollte Hughes sich nicht vorstellen. Aber ihm wurde klar, dass Ed Anfang des Sommers nicht einfach nur etwas ausagiert hatte, sondern dass der Junge gefährlich war.
Als er den Landungssteg hinunterging, entdeckte er Nick, die auf ihn wartete. Sie lehnte am Kombi, und der Wind vom Hafen her drückte ihr das grüne Kleid zwischen die Beine. Sie war wunderschön. Sie war mit den Jahren sogar noch schöner geworden, denn ihr Knochenbau kam jetzt viel besser zum Vorschein. Er fragte sich, warum er das nicht bemerkt hatte, und ihn ergriff eine Traurigkeit, als hätte er etwas vergeudet.
Nick rauchte eine Zigarette. Sie hatte einen Arm quer über die Brust gelegt und fasste mit der
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