Zeit der Raubtiere
Hand ihre Schulter, als wäre ihr kalt. Als er das Auto erreicht hatte, setzte er den Koffer ab und nahm sie in die Arme.
»Du frierst«, sagte er, als er ihre frische Haut spürte.
»Ja, es ist kalt«, sagte sie in seinen Nacken hinein.
»Steig ein! Ich fahre.« Er legte den Koffer in den Kofferraum und ging zur Fahrerseite.
»Du bleibst also?«, fragte Nick.
»Ja.«
»Gut.« Sie zündete sich noch eine Zigarette an.
Während Hughes den Wagen aus Vineyard Haven hinaussteuerte, schwieg sie.
»Wie geht es Daisy?«, fragte er nach einer Weile.
»Na, wie soll’s ihr schon gehen?«, fauchte Nick und drückte die Zigarette aus. »Entschuldige bitte, aber es war ein grauenhafter Tag. Das Ganze hat sie offenbar weniger mitgenommen als mich, wenn ich ehrlich sein soll.«
»Das tut mir leid. Es muss furchtbar für dich gewesen sein.«
»Eine Leiche, Hughes. Und zwar nicht irgendeine friedlich entschlafene Großtante. Das arme Ding wurde erwürgt und weiß Gott was noch alles.«
»Um Himmels willen.« Hughes zog eine Zigarette aus der Packung, die auf dem Armaturenbrett lag. Er sah wieder vor sich, wie Frank Wilcox den Kopf des Mädchens zur Seite drückte, während er sie von hinten nahm. »Hast du mit ihr geredet? Mit Daisy, meine ich.«
»Du weißt ja, wie sie zu mir ist. Ich bin doch das Monster.«
»Das darfst du nicht sagen. Sie liebt dich. Sie sieht zu dir auf.«
»Aber reden tut sie mit dir.«
»Sie redet mit niemandem in unserem Alter. Sie ist zwölf.« Hughes lächelte beim Gedanken an seine Tochter. Das ehrgeizige kleine Ding, immer aufs Gewinnen aus. Er erinnerte sich daran, wie er einmal mit ihr zum Jahrmarkt in West Tisbury gefahren war, wo sie sich in eines der Plüschtiere verliebte, die es als Preis gab. Über eine Stunde lang und unter Verwendung ihres gesamten Taschengelds hatte sie die vier Flaschen umzuwerfen versucht, um das Ding zu gewinnen. Hughes hatte gewusst, dass das Ganze manipuliert war, und das verdammte Plüschtier schließlich für wenig Geld einfach gekauft. Daisy wäre dort geblieben, bis sie es geschafft hätte, und wenn die ganze Nacht darüber vergangen wäre.
»Na ja, mit Ed redet sie«, sagte Nick. »Die beiden halten zusammen wie Pech und Schwefel. Er hat sich ständig weggeschlichen, und sie hat ihn gedeckt. Heute sind sie sogar nach allem, was war, gemeinsam verschwunden.«
»Wohin?«
»Keine Ahnung. Mir gegenüber haben sie dreist behauptet, sie wären unten beim Achterdeck gewesen. Als hätten Helena und ich nicht schon genug Sorgen.« Sie lehnte den Kopf an den Wagensitz. »Mein Gott, ich klinge schon wie ein Hausdrachen.«
»Du klingst wie eine Mutter«, sagte Hughes und legte die Hand auf ihren Schenkel.
»Manchmal frage ich mich, ob da ein Unterschied besteht«, erwiderte Nick und rückte ihr Bein aus seiner Griffweite.
Als sie in Tiger House ankamen, war es zehn, aber die Kinder waren noch auf.
»Daddy!« Daisy rannte die Treppe hinunter und warf sich in Hughes’ Arme.
»Ich mache schon mal Drinks«, sagte Nick.
Über Daisys Kopf hinweg beobachtete Hughes, wie seine Frau im blauen Salon verschwand. Sie hielt sich sehr gerade und bewegte sich mit der üblichen Leichtfüßigkeit, doch ihre Anmut hatte etwas Kummervolles.
Hughes sah zu seiner Tochter hinunter.
»Wie geht es dir, mein Schatz?«
»Ich habe Hunger«, sagte Daisy. »Es gab kein Mittagessen. Ed hat mir einen Cheeseburger gekauft, aber das ist eine Ewigkeit her.«
»Na, dann schauen wir mal, ob sich etwas auftreiben lässt.«
Er folgte seiner Tochter in die Sommerküche, betrachtete ihren blonden Kopf, der vor ihm auf und ab hüpfte. Es zerriss ihm das Herz.
Er warf einen Blick in den Kühlschrank. Es war nicht viel da, und er bekam ein schlechtes Gewissen, weil er seine Familie so oft allein ließ. Immer wenn Nick in ihre düstere Stimmung geriet, fiel das Einkaufen flach.
»Was hältst du von einem Becher warme Milch? Man soll nämlich vor dem Schlafengehen nichts mehr essen.«
»Na gut«, sagte Daisy und setzte sich an den Tisch.
Hughes holte die Milchflasche heraus und goss eine Portion in einen der Kupfertöpfe, die über dem Herd hingen.
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Gut«, sagte Daisy.
Hughes rührte mit einem Holzlöffel in der Milch und schüttete ein bisschen Vanilleextrakt dazu. Das hatte die Köchin auch immer gemacht, als er ein kleines Kind war.
»Ed hat dem Sheriff geholfen und zwei Dollar gekriegt.«
»Tatsächlich? Wie hat Ed dem Sheriff geholfen?«
»Weiß
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