Zeit der Raubtiere
blind und spürte nur noch, wie es ihn, wie es sie durchströmte.
Danach stand Nick auf und sprang ins Meer. Hughes sprang ihr nach, griff unter Wasser nach ihr, aber sie schwamm ein bisschen weiter hinaus. Sie drehte sich um und blickte mit den Beinen strampelnd zum Ufer. Diesmal schwamm er langsamer auf sie zu, und als er bei ihr war, legte sie ihm den Arm um den Hals und küsste ihn. Es schmeckte nach Oliven.
»Eine schöne Farbe hat der Rumpf«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zur Jolle.
»Das habe ich nur für die beiden da gemacht«, erwiderte Hughes und strich mit dem Daumen über ihr Augenlid. »Strumpfbandnatternfarbig.«
Nick lachte und tauchte unter. Als sie wieder hochkam, war ihr Kopf dunkel und glatt und rund. »Ich glaube, eine Strumpfbandnatter hat mich noch keiner genannt. Gute Beschreibung!« Sie begann zurückzuschwimmen und rief ihm über die Schulter hinweg zu: »Willst du jetzt endlich diese verdammten Eier, Hughes Derringer? Oder soll ich die alle selbst essen?«
Es war einer von den Tagen, an die man sich nicht erst viel später erinnern muss, um zu wissen, dass sie gut waren. Die Bucht lag ruhig, man sah nur die sie säumenden Dünen und die Möwen, die hin und wieder aus dem Strandhafer staksten und davor warnten, dass man ihren Küken zu nahe kam.
Nach dem Mittagessen und einem Schläfchen zog Nick ein Buch hervor und begann zu lesen. Ihr Ehering mit dem Diamanten funkelte, während sie es hielt.
»Was liest du da?«
»Gedichte. Wallace Stevens.«
»Lies mal vor!«
»Hast du kein Buch mitgenommen?« Sie sah ihn mit gespielter Missbilligung an.
»Ich hatte zu viel zu tun.«
»Tja – Pech gehabt, Liebling.«
»Nun komm schon!«
Sie blätterte um. »Erinnerst du dich an das hier? Es heißt ›Depression vor dem Frühling‹. ›Der Hahn kräht, / Doch es erhebt sich keine Königin. / Das Haar meiner Blonden schillert / Wie der Speichel von Kühen, / Diese Fäden im Wind.‹«
»Kuhspeichel?«
»Findest du Strumpfbandnatter besser?«
»Weiß nicht, aber Schlangen sind jedenfalls etwas aufreizender. Kühe – na ja.«
»Du bist kein Dichter, stimmt’s? Stell dir doch nur diese durchsichtige Spucke aus dem rosigen Maul vor. Wie ein Netz oder so.«
»Schon gut, schon gut. Erbarmen!«
»Ho! Ho!«
»Genau – ho, ho!«
Nick lachte. »Gut, das war’s dann. Keine Gedichte mehr für dich.«
»Ich werde es überleben. Irgendwie.«
»Bring den Wein her und halt den Mund!«
Hughes stand auf, holte die Flasche und trank den Rest aus Nicks Glas. Er schaute zum Horizont. »Wir sollten bald aufbrechen.«
»Ja, die Kinder werden schon daheim sein. Und Helena …« Ihre Stimme verlor sich. »Hughes, ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen, ob du beim Sheriff warst – wegen Ed, meine ich.«
»Nein.«
»Gehst du hin?«
»Ja.«
»Heute noch? Wenn wir zurück sind?«
»Gut, wenn du es unbedingt willst.«
Er sah zu, wie Nick die Picknicksachen und ihr Buch ordentlich im Korb verstaute, und spürte das Bedürfnis, sie vor allem und jedem zu beschützen.
Er streckte den Arm aus und wischte ein Sandklümpchen weg, das in ihrer Kniekehle hing. Sie lächelte ihm zu.
»Komm!« Sie hielt ihm die Hand hin.
Er ergriff sie, und sie verließen gemeinsam den Strand.
Während Hughes durch die Main Street zur Polizeiwache ging, versuchte er sich zurechtzulegen, was er dort sagen würde. Es erschien ihm ein bisschen albern, wegen Ed den Sheriff aufzusuchen, und es machte ihn nervös, obwohl er nicht wusste, warum.
Er drückte die schwere Tür auf und trat an den unaufgeräumten Schreibtisch im Eingang. Ein Polizist, der nicht älter als achtzehn sein konnte, bekritzelte eine vor ihm liegende Kladde und wirkte extrem gelangweilt.
»Hallo«, sagte Hughes.
»Hallo, Sir«, erwiderte der junge Mann, gänzlich unbeirrt davon, dass man ihn im Dienst beim Zeichnen von Muscheln erwischt hatte. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte mit Sheriff Mello sprechen, falls er da ist.«
»Ihr Name, Sir?«
»Hughes Derringer.«
»Ich schaue nach, ob er abkömmlich ist.«
Durch eine Glaswand sah Hughes Sheriff Mello an seinem Schreibtisch sitzen und irgendwelche Papiere durchgehen. »Gut«, sagte er. »Danke.«
Der Polizist schlurfte in das Büro des Sheriffs und schloss die Tür hinter sich. Hughes sah, wie sich die Lippen des jungen Mannes bewegten und Sheriff Mello herausspähte. Der Sheriff gab ihm ein Handzeichen, erhob sich von seinem Stuhl und folgte dem
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