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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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Gras war rutschig vom Tau. Die Luft hatte sich leicht abgekühlt. Die Hitzewelle war noch nicht vorbei, aber die Schwüle hatte ein wenig nachgelassen.
    Er hängte den Bademantel über den hölzernen Sichtschutz, drehte das Wasser auf und ließ es sich auf Kopf und Schultern laufen, bis es zu seinen Füßen wie in einem kleinen Gezeitentümpel wirbelte. Er bog den Kopf zurück, strich die Haare aus den Augen und sah in den Himmel über sich, der noch in einem hellen Blau erstrahlte, das die Morgensonne schon zu verdunkeln begann. Er roch das nasse Gras und die feuchten Bodenziegel. Er fühlte sich gut. Und er war traurig.
    Er dachte daran, dass Nick in ihrem roten Badeanzug über die Straße gegangen war, und fragte sich, warum ein Bademantel so viel besser gewesen wäre. Sie taten doch alle so, als ob das kleine Stück Gehsteig zwischen ihrem Haus und dem Rasen jenseits der Straße Privatgelände wäre, ihnen gehörte, obwohl man in Wirklichkeit auf jeden vorbeikommenden Tom, Dick oder Harry stoßen konnte, wenn man in Unterwäsche darauf hin und her spazierte. Jedenfalls hatte Nick genug Gespür, um zu wissen, dass es leicht schockierend wirken konnte, auch wenn ihr das eigentlich egal war.
    Als er ins Haus zurückkam, saß sie in der Küche. Er hatte sich schon überlegt, was er sagen würde, doch als sie ihn sah, legte sie los, bevor er den Mund aufmachen konnte.
    »Es tut mir leid. Ich habe gestern wohl zu viel getrunken.«
    Einen Moment lang war Hughes verwirrt. Nicht nur, weil es sehr selten vorkam, dass seine Frau sich für etwas entschuldigte, sondern auch, weil ihre Worte jedes Gespräch über die Sache im Keim erstickten. Es tat ihr leid – der Alkohol, man kennt das ja.
    »Wenn sich hier einer zu entschuldigen hat, dann ich«, sagte er. »Ich habe mich wie ein Idiot aufgeführt. Aber ich weiß einfach nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist. Alles fühlt sich so … Ich weiß nicht … Alles fühlt sich so anders an.«
    Nick erwiderte nichts.
    »Pass auf.« Er ging zu ihr. »Die Sache ist mir egal. Ich will nicht darüber reden. Ich möchte, dass wir heute zusammen mit dem Boot rausfahren. Der Rumpf müsste inzwischen trocken sein.«
    »Na gut«, sagte sie langsam. »Aber Daisy hat bis mittags Tennistraining.«
    »Nein, nur du und ich. Ich lade dich ein.«
    Nick starrte auf ihre Füße und nickte. Er hätte schwören können, dass sie ein bisschen rot geworden war.
    »Du packst die Picknicksachen zusammen, ich mache das Boot klar. Wir treffen uns in einer Stunde unten am Steg.«
    Und bevor sie es sich anders überlegen konnte, verließ er die Küche. In der Eingangshalle traf er auf Daisy, die gerade die Treppe herunterkam. Ihre runden blauen Augen waren noch voller Schlaf, und ihre Haare bildeten am Hinterkopf ein wirres Knäuel.
    Hughes packte sie und holte sie schwungvoll von der letzten Stufe in seine Arme. Sie kreischte auf.
    »Lass mich runter, Daddy!«
    »Entschuldige, mein Liebling.« Nick hatte recht, Daisy entwickelte sich allmählich zu einem empfindlichen kleinen Ding. »Der Anblick dieses fast noch schlafenden Dornröschens da auf der Treppe hat mich einfach überwältigt.«
    Daisy tat beleidigt, aber er spürte, dass sie sich eigentlich freute.
    Er ging nach oben, um sich umzuziehen. Als er an Helenas Zimmer vorbeikam, steckte sie den Kopf heraus, zog ihn aber wie eine Schildkröte sofort wieder zurück, als sie Hughes sah, und drückte die Tür ins Schloss.
    Unten am Bootshaus strich er mit der Hand über den Bootsrumpf, um sicherzugehen, dass alles staubtrocken war. Zufrieden zog er die Jolle über den Rasen auf den schmalen Streifen Strand und begann sie aufzuriggen.
    Er setzte den Mast, zog das Großsegel mit dem Unterliek in die Baumnut und trimmte es. Er führte den Baumlümmel in die äußere Mastnut ein und schäkelte das Großfall an den Kopf des Segels. Danach schob er die Latten in die Taschen im Segel und arretierte sie. Dann holte er die Kissen und zwei Strandtücher aus dem Bootshaus und breitete sie auf dem sonnigen Steg aus, um den schwachen Modergeruch zu vertreiben.
    Er setzte sich auf die warmen Holzplanken, beobachtete die unter ihm durch den Seetang huschenden Elritzenschwärme und wartete.
    Er sah sie, leicht tippelnd wegen des Gefälles, den abschüssigen Rasen herunterkommen. Aus dieser Distanz konnte man sie für zwanzig halten in ihren mohnroten Shorts, die sie über dem trägerlosen weißen Badeanzug trug, und dem kurzen, aus der Stirn gebürsteten Haar. Sie

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