Zeit der Raubtiere
was sich hinter verschlossenen Türen, in dunklen Treppenhäusern und bei Privatfesten abspielte, zu denen sie nicht mitkommen durfte, oder auf mitternächtlichen Spaziergängen, wenn die Welt schlief. Sie hatten glücklich gewirkt. Aber ihr Vater war gestorben, als sie noch klein war, und ihre Erinnerung an die beiden zusammen bestand aus Bruchstücken: eine Diamantenbrosche in einer grünen Lederschatulle als Weihnachtsgeschenk, die Hand ihrer Mutter, die über den Backenbart des Vaters strich, der Geruch von Royal-Jacht-Tabak und der Duft von L’Heure Bleue, untrennbar miteinander verwoben.
Ihre Mutter war gegen Nicks Heirat gewesen, hatte sie und Hughes für zu jung gehalten. Sie hatte Nick gezwungen, mit anderen jungen Männern auszugehen, zu langweiligen Tanzabenden mit Sitznachbarn, die mit schwitzigen Fingern unter dem Tisch Händchen zu halten versuchten. Als dann herauskam, dass sie sich heimlich mit Hughes traf, gab ihre Mutter nach. Falls etwas passiere, sei es immer noch besser, wenn sie wenigstens verheiratet sei.
Sie heirateten auf der Insel, in Nicks Taufkirche. Klein, mit wunderschönen Glasfenstern. Der Empfang fand in Tiger House statt. Es gab viel zu starken Punsch, feine Sandwiches und eine süße weiße Torte mit kandierten Veilchenblüten.
Nick ging es nicht gut, ihr war übel, und sie floh in den Salon im oberen Stock. Sie setzte sich auf das mit grauer Seide bezogene Sheraton-Sofa, begann die Orangenblüten aus ihrem Haar zu ziehen, und fragte sich, ob sie es jemals wieder nach unten schaffen würde. Vielleicht würde sie auf diesem Sofa dahinsiechen wie Miss Havisham; die Orangenblüten würden welken und hart werden, die Pralinen auf dem Beistelltisch sich in alte braune Steine verwandeln.
Da erschien Hughes in der Tür, in seinem Stresemann. Schweigend ging er zu ihr und setzte sich neben sie. Nick zupfte weiter an den kleinen duftenden Zweigen herum und schämte sich so, dass sie ihn nicht anzusehen wagte. Er umfasste ihr Kinn mit der Hand und drehte ihren Kopf zu sich. Und in dieser Geste lag alles, alles, was nicht tot und nicht schal und nicht einengend war.
Er nahm sie an der Hand und führte sie nach hinten ins Mädchenzimmer. Das Fenster stand offen, und der gelbkarierte Vorhang blähte sich in der Hafenluft. Er hob ihren wallenden Rock und den Petticoat, kniete sich hin und presste sein Gesicht an sie, atmete sie ein, tat sonst nichts. Minuten schienen vergangen, da hörten sie Schritte auf dem Gang. Hughes wandte den Kopf zur offenen Tür, blieb aber an Nick geschmiegt. Das Hausmädchen ging vorbei und erstarrte, schamrot von dem Anblick. Hughes hatte die Frau ungerührt gemustert, so als wollte er, dass sie Nick und ihn sah und das, was sich gerade zwischen ihnen ereignete und veränderte. Erst dann hatte er mit einem Fußtritt die Tür geschlossen.
Es war zehn Uhr. Die Sonne näherte sich ihrem höchsten Stand, und Nick saß noch immer im Nachthemd da. Der Kaffee stand kalt neben ihrer reglosen Hand auf dem Frühstückstisch. Die Küche roch nach den Krabben vom vergangenen Abend, aber es konnte natürlich auch der Geruch der Krabben vom Mittwoch oder Sonntag sein.
Vor der Haustür hatten die sorgsam in Packpapier eingeschlagenen Überreste des Radios gelegen wie ein ausgesetztes Baby. Nick wäre nicht überrascht gewesen, wenn ein Zettel mit der Aufschrift »Ungeliebt und unerwünscht« darauf gelegen hätte.
Scheißkerl, dachte sie.
Sie glaubten doch, anders zu sein, anders als die Leute, die nichts wollten und nichts machten und nichts Besonderes waren. Sie hatten doch die sein wollen, die »Sei’s drum« sagten und ihre Weingläser in den Kamin warfen und von Felskanten sprangen – keine vorsichtigen Leute.
Wenn er doch nur nicht so schön wäre. Wenn sie ihn nur nicht so begehren würde.
Draußen war ein Auto zu hören. Nick stand langsam auf und trat ans Fenster.
Charlie Wells knallte die Wagentür zu. Unter seinem Arm steckte ein Stapel Schallplatten. Nick lief ins Schlafzimmer und schloss die Tür. Ein bestimmtes Gefühl vom Abend zuvor – seine Hand an der weichen Innenseite ihres Schenkels unter dem Esstisch, ein stiller Ruhestörer – kam wieder in ihr hoch. Wie hatte sie das vergessen können?
Mit klopfendem Herzen griff sie nach ihrem Morgenrock und musterte sich im Spiegel. Dünn und unglücklich sah sie aus. Na und, dachte sie, ich bin nun mal dünn und unglücklich.
Charlie klopfte an die Fliegengittertür. Nick straffte die Schultern
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