Zeit der Raubtiere
ihr wohl ziemlich zu?«
»Ach, ich weiß nicht. Er scheint doch sehr an ihr zu hängen.«
»Meinst du?«
»Jedenfalls hast du dich offensichtlich gut amüsiert. Das freut mich«, sagte Hughes und schwenkte den restlichen Scotch im Glas. »Ich will nicht, dass es dir hier zu öde wird.«
»Das ist unser Leben. Warum sollte ich es öde finden?«
»Unser Leben«, wiederholte Hughes langsam und stieß einen fast unhörbaren Seufzer aus. »Ja, so ist es wohl.«
»Wie meinst du das – ›So ist es wohl‹?«
»Ich weiß nicht, wie ich es meine, vielleicht habe ich einfach zu viel getrunken.«
»Also, ich habe definitiv zu viel getrunken«, sagte Nick und wandte sich zu ihm um, »und ich will jetzt verdammt noch mal wissen, was du mit ›So ist es wohl‹ gemeint hast!«
Hughes fixierte ihre Augen. »Stimmt, du hast zu viel getrunken.«
»Gut, dann habe ich eben zu viel getrunken – na und? Mir ist sowieso alles zu viel, verdammte Scheiße!«
»Wäre schön, wenn du nicht so viel fluchen würdest.«
»Wäre schön, wenn du der Mann wärst, den ich geheiratet habe.« Nick zuckte zusammen. Sie war zu weit gegangen, aber es hatte sich angefühlt wie Klippenspringen.
Als kleines Mädchen hatte sie oft mit Helena und ein paar Jungs oben im alten Steinbruch Mutproben gemacht. Granit gab es dort längst nicht mehr, der Steinbruch war aufgegeben und dem unvorstellbar tiefen Grundwasser überlassen worden. Von einem alten Eichenstumpf aus, der als Startpunkt diente, liefen sie abwechselnd los und rannten ohne zu bremsen, bis sie in der Luft waren und von der Felskante stürzten. Die Jungs, die zu viel Angst hatten, kullerten hinunter wie Murmeln, aber Nick sprang immer.
Allerdings – dort hatte sie sich ausgekannt.
Hughes trank den restlichen Scotch in einem Schluck und schenkte sich nach. »Tut mir leid, wenn du enttäuscht bist.«
»Ich will nicht, dass dir irgendwas leidtut.«
»Leg dich schlafen, Nick. Wir können weiterreden, wenn du wieder nüchtern bist.«
»Du bist doch derjenige, der eigentlich …« Sie stockte. »Du bist doch mein Mann.«
»Das ist mir durchaus bewusst, Nick.« Es klang ärgerlich, fast gehässig.
»Bist du sicher? Dir scheint in letzter Zeit nicht viel bewusst zu sein.«
»Vielleicht wärst du allein besser dran. Vielleicht bin ich der Aufgabe, Ehemann zu sein, einfach nicht gewachsen.«
»Ich gebe mir wenigstens Mühe«, sagte Nick, die es plötzlich mit der Angst zu tun bekam. »Aber du …«
Hughes erhob sich abrupt zu seiner vollen Größe. Er presste die Hand auf den Tisch. Seine Fingerknöchel, die das Glas umfassten, wurden weiß. »Du meinst also, ich würde mir keine Mühe geben, Nick? Was, glaubst du, tue ich jeden Tag, jede Sekunde? Das Schiff, dieser Ort, dieses Haus, dieses Leben: Meinst du, ich habe mir das gewünscht?«
Nick sah ihn an. Dann riss sie mit einer schnellen Bewegung das Radiokabel aus der Wand, packte den Apparat und schleuderte ihn durch die Luft.
Hughes zuckte nicht einmal zusammen. Er stand da wie eingehüllt in das, was er gesagt hatte, und sein Blick war leer.
Das Radio verfehlte ihn und landete krachend in einer Ecke.
»Und? Glaubst du, das da« – sie deutete auf den Haufen aus Röhren und Kunststoffteilen –, »glaubst du, das da habe ich mir gewünscht?«
»Ich gehe ins Bett«, sagte Hughes.
»Wozu denn?« Nick strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Du schläfst doch schon längst.«
Früh am nächsten Morgen fuhr Hughes weg. Nick tat, als würde sie schlafen. Der Vorhang war zugezogen, es war stickig im Zimmer. Beide schliefen gern bei offenem Fenster, aber Nick hatte es geschlossen gelassen, als sie endlich ins Bett gegangen war. Nicht einmal die Annehmlichkeit der kühleren Luft hatte sie sich gönnen wollen. Es würde grauenhaft werden, und es war grauenhaft, und nicht zuletzt wegen der Schwüle.
Als sie den Wagenmotor hörte, stand sie auf, setzte sich, nur im Nachthemd, an den Küchentisch und starrte in ihren schwarzen Kaffee. Sie spielte mit dem Gedanken, ihre Sachen in einen Koffer zu werfen, ein Taxi zu rufen und nach Hause zu flüchten. Doch als sie in ihrer Vorstellung in Cambridge eintraf, dehnte sich die Zukunft vor ihr, und sie wusste nicht mehr weiter. Außerdem würde es ihn dann immer noch irgendwo geben, irgendwo anders, und sie würde ihn nicht haben. Deshalb starrte sie weiter in ihren Kaffee.
Sie versuchte sich an die Ehe ihrer Eltern zu erinnern, aber es ging nicht. Sie hatte nicht mitbekommen,
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