Zeit der Raubtiere
sogar einen. Solche Sachen – Sachen, die man sich nicht mal hätte vorstellen können – bringt man oft erstaunlich leicht runter.«
Der rostige Clipper, den sich Charlie seinen eigenen Worten zufolge von »einem der Jungs« geliehen hatte, rollte auf der schnurgeraden Fahrbahn Richtung Stadt dahin. Neben ihnen weitete sich der Kanal und wurde zu einer breiten, von Fischerbooten und Bretterbuden gesäumten Wasserstraße.
Der Wagen wirkte eng, hatte fast etwas Intimes. Nick ertappte sich dabei, dass sie die Fußknöchel und die Knie aneinanderpresste, wie es ihre Mutter ihr für alle Situationen beigebracht hatte, in denen sie mit einem Jungen zusammensaß. Sie strich sich das Haar zurück und zwang sich, nicht zu Charlie hinüberzusehen. Doch während sie dem Surren der Räder lauschte, kehrten ihre Gedanken zum Abendessen zurück.
Es war keine krachende, plumpe, schäbige Anmache gewesen wie bei dem Mann im Havana Special, sondern ein stiller Annäherungsversuch, bei dem seine Hand unter ihren Rocksaum geglitten war, ihre Knie ganz leicht auseinandergedrückt und mit dem Daumen die Haut an der Innenseite ihres Schenkels in kleinen konzentrischen Kreisen gestreichelt hatte.
Mit geschlossenen Augen hätte sie sich vorstellen können, dass es Hughes’ Hand war, ruhig, aber beharrlich, so wie in ihrer Erinnerung.
Sie hatte nachgeschenkt und sich dabei leicht von ihrem Stuhl erhoben, um an die anderen heranzukommen, und dabei hatte sie ein bisschen Wein auf dem weißen Leinentischtuch ihrer Großmutter verschüttet. Charlie hatte die ganze Zeit nur Hughes angeblickt und mit ihm weiter über das miese Essen in der Kantine geredet und über Hughes’ Witzchen gelacht. Hughes dabei zu sehen, wie er nickte und seine blauen Augen beim Lächeln in den Winkeln faltig wurden, hatte sie traurig gemacht. Gleichzeitig raubte es ihr den Atem, gab ihr das Gefühl, betrunkener, mächtig zu sein.
Sie hatte es sich nicht verkneifen können, einen Blick auf Elise zu werfen, die keine Sekunde lang Charlie aus den Augen ließ. Sie fragte sich, ob Elise einen Verdacht hegte oder vielleicht sogar daran gewöhnt war, so wie man sich angeblich an den Fliegeralarm gewöhnte. Man wartet, weil man weiß, dass er kommt, und hält sich dann die Ohren zu, bis er vorbei ist und man gefahrlos darüber fluchen kann.
Nick saß im Auto und presste die Knie aneinander. Sie hätte zu Hause bleiben sollen. Sie hätte auf ihrem Schwimmsteg liegen, Count Basie hören und sich allmählich für das Offizierspicknick am Abend fertig machen sollen.
Aber dann fielen ihr das sorgsam in Packpapier gewickelte Radio und das schwere Kochbuch mit den vielen Zutaten ein, die sie nicht besorgt hatte, und sie lehnte den Kopf ans Wagenfenster und schloss die Augen.
Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann Hughes sie das letzte Mal zum Mittagessen ausgeführt hatte. Irgendwann vor dem Krieg. Immer ging es ums Geld, als ob sie wirklich arm wären. Dabei störte sie das mit dem Geld noch am wenigsten, aber sie hasste es, dass alles immer diskutiert und abgewogen werden musste und letztlich dann doch immer er entschied und sie mit dem Gefühl zurückließ, nur die Wand gewesen zu sein, gegen die er geredet hatte. Es war anstrengend, und es machte sie leichtsinnig. Um den gelben Badeanzug kaufen zu können, hatte sie ihrem Treuhänder telegraphiert und heimlich um das Geld gebeten. Dann hatte sie Hughes einen falschen Preis genannt und das Schildchen auf dem Heimweg zerrissen und am Straßenrand verstreut. Und das alles wegen eines blöden Badeanzugs – den sie aber genau deshalb sogar noch mehr mochte.
Trotzdem, Geld war Geld, und sie hatten wenigstens welches. Sie dachte an Helena und das letzte Telefongespräch mit ihr. Sie hatten sich in den vergangenen Monaten regelmäßig geschrieben – fröhliche, banale und, zumindest was Nick betraf, ziemlich wahrheitswidrige Briefe. Doch als Helena vor einer Woche angerufen hatte – ein Ferngespräch aus Hollywood –, wusste Nick, dass etwas nicht stimmte. Offenbar hatten sich die sowieso schon bescheidenen Lebensumstände ihrer Cousine durch die Heirat verschlechtert; Helena – genauer gesagt Avery Lewis – wollte das kleine Cottage auf der Insel gegen Bargeld verkaufen. Die Nachricht bestätigte Nicks Verdacht, dass der Mann ein Scharlatan war, was sie Helena auch sagte, woraufhin, die Verbindung war schlecht, stark rauschendes Schluchzen ertönte. Helena hatte Nick erklärt, Avery wolle in ein
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