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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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hatte die ganze Zeit für jeden sichtbar dagestanden.
    »Du weißt genau, was ich meine.« Sie stampfte leicht mit dem Fuß auf.
    »Deine Mutter hat gesagt, du sollst nicht zu viel trinken.«
    »Ich brauche keinen Babysitter.«
    »Er passt doch nur ein bisschen auf dich auf, stimmt’s, Ed?« Tyler grinste mich an. Allmählich bekam ich den Eindruck, dass er mich für geistig zurückgeblieben hielt.
    »Ja, ich passe auf Daisy auf.«
    Tylers Augen wurden schmal, als hätte ich etwas Unangenehmes gesagt. Er änderte kaum merklich die Haltung, bog den Kopf ein Stück zurück und musterte mich. »Kein Grund zur Sorge, Kumpel. Ich kümmere mich schon um sie.«
    Ich erwiderte nichts. Ich sah ihn nur an.
    »Also bitte, Ed«, sagte Daisy. »Jetzt werd nicht komisch!«
    Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Daisy mich wirklich verstand, dass sie alles darüber wusste, was ich machte, und es guthieß oder zumindest akzeptierte. Aber vielleicht machte ich mir da etwas vor.
    »Wir gehen jetzt spazieren«, sagte sie. »Und du?«
    »Keine Ahnung«, sagte ich.
    Sie zögerte. »Gut, dann sehen wir uns zu Hause.«
    Sie hakte sich bei Tyler unter. Er warf mir einen Blick zu. Sein Grinsen war wieder fest an seinem Platz.
    »Schön, dich mal wieder gesehen zu haben, Ed.« Diesmal bot er mir nicht die Hand.
    »Auf Wiedersehen«, sagte ich.
    Ich machte auch einen Spaziergang, erst unten am Hafen, so weit ich kam, dann hinauf zur Old Sculpin Gallery. Ein paar Leute mit Fahrrädern warteten auf die letzte Fähre nach Chappaquiddick. Eine junge Frau mit Kopftuch stand allein da. Sie fingerte am Riemchen ihres Schuhs herum, das offenbar halb abgerissen war, denn es hing schlaff herunter und ließ sich nicht mehr durch die Schnalle ziehen. Ich begann schneller zu atmen, und einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, auch an Bord der Fähre zu gehen, aber Chappy war so wild, dass ich mich dort wahrscheinlich in der Dunkelheit verirrt hätte und im Giftsumach gelandet wäre.
    Ich spazierte durch die North Water Street und bog links in die Morse Street ein. Mich zog es zu den Tennisplätzen, aber ich schob den Drang beiseite. Ich hatte gelernt, dass alles seinen Zauber verliert, wenn man es sich immer und immer wieder ansieht. Ich nahm die Strecke über die Fuller Street mit ihren perfekten kleinen weißen Häuschen und den umlaufenden Veranden. Dann sah ich plötzlich eine Frau vor mir. Ich war ganz leise, ging nur noch auf den Ballen, wie ich es viele Jahre zuvor bei den Pfadfindern von Mr. Reading gelernt hatte. Als ich näher kam, erkannte ich an ihrem roten Haar und ihrer leicht gebeugten Haltung, dass es Olivia die Violettäugige war.
    Sie öffnete das Gartentor eines Hauses und ging hinein. Ich blieb ein Stück zurück, bis in einem der oberen Zimmer das Licht anging. Daraufhin folgte ich ihr durch das Tor und schlich mich durch den Schatten an der Seitenwand des Hauses, bis ich einen guten Blick in das Fenster hatte.
    Sie trat davor hin und schob den Rahmen ein bisschen höher. Dann fuhr sie sich über den Nacken, als wäre ihr heiß. Sie zog ihr Kleid aus, und ihr Unterrock war rosa, muschelfarbig. Dann war sie eine Zeitlang verschwunden, und ich dachte schon, sie würde nicht wiederkommen. Aber genau in dem Moment, als ich gehen wollte, kehrte sie zurück. Sie stand ganz reglos am Fenster, und plötzlich bedeckte sie mit der Hand die Augen. Ich hörte ihr Schluchzen – nicht weil es so laut war, das war es nämlich nicht, sondern weil wir einander so nahe waren, obwohl sie sich ein gutes Stück über mir befand.
    Ich wäre so unglaublich gern hineingegangen. Ich wollte sie berühren und herausfinden, was unter ihrer Haut war. Sie war ein interessanter Mensch, aber sie hatte Risse. Und gerade die Risse zogen mich so an, weil da das Innere hervorlugte und man Einblick in das bekam, was unter der Oberfläche lag. Die aus dem Kleid quellenden Fettröllchen am Rücken, die abgekaute Nagelhaut, der verschmierte Lippenstift, die Laufmasche im Strumpf.
    Ich wusste, dass es nicht ging. Wenn mich Frank Wilcox eines gelehrt hatte, dann, dass die Insel zu klein war. Er hatte Glück gehabt, Elena Nunes war nur ein Hausmädchen gewesen. Aber Olivia war eine von uns. Sie war tabu.
    Trotzdem verspürte ich eine gewisse Befriedigung, als ich den Garten verließ, während sie leise schluchzend oben in ihrem Schlafzimmer stand. Ich fühlte mich leicht, so als wäre alles möglich, als wäre die Welt meine Auster. Es ging nicht immer nur ums Tun,

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