Zeit der Raubtiere
manchmal genügte es, nur ans Tun zu denken und allein im Dunkeln zu bleiben und sich ehrlich einzugestehen, was man wollte.
Während ich durch die North Water Street auf Tiger House zuging, hörte ich die Stille der Nacht rings um mich. Die Gehsteige waren leer, nur der Klang meiner Schritte auf dem Pflaster grüßte mich. Es war ein guter Abend gewesen, fand ich. Und dann sah ich die beiden.
Das Licht der trüben Verandalampe umgab sie mit Schatten und ließ Daisys Haar wie ein helles Feuer erglühen. Sie standen ganz nah beieinander, aber ihre Körper berührten sich nicht. Über ihnen jagten graue Falter mit staubüberzogenen Flügeln dahin, und mir kam die abstruse Vorstellung, dass sie eher von Daisys schimmerndem Haar angelockt wurden als von der Lampe darüber. Seine Hand war in ihrem Haar, er zog ihren Kopf ein wenig nach hinten. Sie war an der äußersten Grenze, hatte sich nicht mehr im Griff, und es schien, als sollte sich das, was Stunden zuvor auf dieser Veranda begonnen hatte, jetzt vollenden. Wie etwas, das zur vollen Blüte gelangt. Er küsste sie, und ich wusste, es würde Ärger geben.
August 1967
T yler holte mich vom Flughafen ab. Ich war gerade aus Cedar Rapids angekommen, und als ich in die schwüle Ostküstenluft hinaustrat, trommelte er bereits ungeduldig auf das Lenkrad seines olivgrünen Wagens. In Gedanken war ich noch in Iowa, in dem kleinen Farmhaus in der Nähe von Elvira, umgeben von sanft gewellten Ebenen, und Tylers propere städtische Aufmachung, sein frisch gestärktes Hemd und vor allem die Sportsitze aus Vinyl verpassten mir eine Art Kulturschock.
»Kofferraum ist offen«, sagte er, und ich legte meinen Koffer und die Aktentasche hinten hinein.
»Wenn wir die letzte Fähre noch kriegen wollen, müssen wir uns beeilen«, erklärte er gereizt, als ich einstieg. »Ich habe keine Lust, in Woods Hole festzusitzen.«
Ich sah ihn schweigend an und bemerkte, dass sein Blick unsicher von mir abglitt.
Als wir auf die Schnellstraße kamen, versuchte er es noch einmal. »Mutters Geburtstag, was?«
»Ja«, sagte ich.
»Daisy freut sich sehr, dass du kommst. Wie lange habt ihr euch nicht gesehen?«
»Neun Monate«, antwortete ich. In einem mexikanischen Lokal in der Stadt, kurz vor Weihnachten. Sie hatte die Feiertage dann mit Tante Nick und Onkel Hughes in Florida verbracht. Ich hatte sie mit meiner Mutter in Tiger House verbracht. Meine Mutter hatte ständig von der Näherei geredet, die sie eröffnen wollte, um unser altes Cottage zurückzukaufen. Ich hörte gar nicht richtig hin; mir war Tiger House sowieso lieber.
»Tja, zurzeit ist eine Menge los. Die Hochzeit und so weiter.«
Daisy hatte mich einen Monat zuvor angerufen und erzählt, dass sie ihn heiraten werde. Es hatte mich zwar nicht allzu sehr überrascht, aber als sie es tatsächlich aussprach, entstand eine große Leere in meinem Kopf. Eine Zeitlang hörte ich nur noch das Knacken in der Leitung. Dann sagte ich: »Und was ist mit dem College?«
»Ich pausiere einfach mal ein Semester, dann sehen wir weiter. Ich bin nicht so wie du. Wenn ich in drei Jahren durchs College rauschen könnte, würde ich es tun. Aber ich kann es nicht, und ich will nicht mehr warten. Ich liebe ihn, Ed, und ich will ihn heiraten, und zwar so bald wie möglich.«
»Ja«, hatte ich gesagt, obwohl ich nicht »ja« gemeint hatte.
Tyler schaltete das Radio ein.
Ich lehnte mich zurück und roch das Vinyl. Es war neu und strömte diesen stechenden, grellen Geruch aus, bei dem ich immer die Zähne zusammenbeißen musste.
»Ist das Auto neu?«, fragte ich.
»Ja. Schön, was? Ein Buick Riviera. Aber wahrscheinlich reine Geldverschwendung.« Er lächelte. »Nick sagt, er erinnert sie an ein Seerosenblatt.«
»Und was meint Daisy?«
Sein Lächeln ließ etwas nach. »Ein Wagen für Salonlöwen, findet sie.« Er lachte kurz auf. »Da hat sie vielleicht sogar recht. Er ist etwas zu protzig, aber er hat mir einfach unheimlich gut gefallen.«
»Welche Farbe ist das?«
»Golden.«
»Er wirkt grün.«
Sein Lächeln verschwand. »Ich weiß.« Er drehte das Radio lauter.
Ich hörte nicht oft Radio. Aber Anna, die Frau auf der Farm in Iowa, hatte eines gehabt, und wir tanzten dazu, wobei sie immer am Knopf drehen musste, damit der Empfang wieder klar wurde. Tylers Radio hatte zwar einen ziemlich klaren Empfang, aber alles, was es spielte, klang irgendwie hässlich und falsch.
Kurz vor Woods Hole sagte Tyler: »Den Song liebe ich«, und schielte zu
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