Zeit der Raubtiere
Ausschau nach irgendeinem anderen, an den sie sich in diesem Meer der Gleichförmigkeit klammern könnte.
Daisy nahm meine Hand und sagte: »Jetzt trödle nicht so rum, Ed Lewis!«, und wir zwängten uns durch die Leute hinaus auf den Steg, wo die Frauen versuchten, nicht mit den Stöckeln zwischen den Planken stecken zu bleiben. Daisy zögerte kurz und lockerte den Griff um meine Hand, doch dann sah sie Tante Nick ganz am Ende des Stegs stehen und neben ihr Onkel Hughes.
Tante Nick gehörte nicht zum Meer der Gleichförmigkeit. Sie übte einen gewissen Reiz auf mich aus, der mit ihrer Art, sich zu bewegen, zusammenhing, aber ich mochte sie nicht besonders. Und trotz ihrer ungewöhnlichen Erscheinung war sie dann in vielem doch wieder wie alle anderen. Meiner Ansicht nach teilte sich die Welt in zwei Lager auf: In dem einen waren Menschen wie Daisy und ich, die so ehrlich lebten, wie sie nur konnten, in dem anderen war der Rest der Welt, der sich aus verschiedenen Gründen ständig etwas in die Tasche lügen musste.
Als wir näher kamen, sah ich Onkel Hughes zusammenzucken, aber nur mit den Augen. Es war ein toller Trick, und ich bewunderte ihn für die Fähigkeit, mit seinem Körper etwas auszudrücken und gleichzeitig etwas ganz anderes zu denken. Und obwohl er mich seit dem Sommer mit Frank Wilcox nicht mehr ausstehen konnte, war er mir komischerweise nicht unsympathisch. Das Ganze tat mir sogar eher leid. Ich hatte es nicht darauf angelegt, ihn gegen mich aufzubringen, aber damals hatte ich eben noch nicht gelernt, bestimmte Dinge für mich zu behalten. Mit Menschen zu reden. Auch dafür war das Internat gut gewesen.
»Hallo, mein Schatz«, sagte Tante Nick und gab Daisy einen Kuss. Ich roch das Parfum, das sie immer trug, etwas Blumiges mit einem Anflug von Alkohol. »Hallo, Ed.«
»Hallo.« Ich gab Onkel Hughes die Hand.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Tante Nick. Es schien sie ehrlich zu interessieren.
»Sie ist im Krankenhaus.«
»Ja«, sagte Tante Nick. »Die Ärzte glauben, dass sie diesen Sommer wieder nach Hause kommen kann. Hattest du den Eindruck, dass sie … gesund ist?«
»Ich denke schon.« Ich wusste nie so recht, was damit gemeint war, aber mir war klar, dass man immer positiv darauf antworten musste. Nach Tante Nicks Maßstäben war meine Mutter nicht gesund. Sie war sehr wütend, ohne es besonders gut verbergen zu können, obwohl sie sich spürbar größte Mühe gab.
Bei meinem letzten Besuch hatte ich gemerkt, dass sie mir etwas mitteilen wollte, irgendetwas über Tante Nick, glaube ich. Aber ich hatte wirklich keine Ahnung, warum sie so wütend war. Sie hatte ja vor der Einweisung ins Krankenhaus nicht viel anderes getan, als in dem abgedunkelten Zimmer zu schlafen und sich mit meinem Vater zu streiten.
»Na, hoffentlich …« Tante Nicks Stimme erstarb.
Onkel Hughes legte ihr die Hand auf den Arm.
»Mummy, Ed ist gerade erst angekommen«, sagte Daisy. »Er will jetzt nicht übers Krankenhaus reden.«
»Ja, entschuldige bitte«, sagte Tante Nick und sah sich um, wahrscheinlich weil sie wissen wollte, ob jemand zugehört hatte.
»Na, Ed, was hast du dir für diesen Sommer vorgenommen?«, fragte Onkel Hughes.
»Mit mir ausgehen«, sagte Daisy und drückte meine Hand, die in ihrem Griff ganz feucht wurde. »Das heißt – natürlich nur, wenn er aufhört, ältere Frauen anzuschmachten. Ihr hättet ihn vorhin sehen sollen!« Sie grinste ihre Eltern an. »Er konnte sich kaum lange genug von Olivia Winston losreißen, um einen Drink zu bestellen.«
»Ich habe sie nicht angeschmachtet.«
»Lügner«, sagte Daisy.
Onkel Hughes warf mir einen seiner misstrauischen Blicke zu, und ich stellte meine Miene auf ausdruckslos.
»Ach«, rief Tante Nick, den Blick über unsere Köpfe hinweg auf die Tür gerichtet, »ist das nicht Tyler Pierce?«
Natürlich war es Tyler Pierce, und Tante Nick wusste das auch ganz genau, sie sah ihn ja direkt an. Aber Daisy wandte sich ab und schaute dann gleich wieder hin.
»Wer ist Tyler Pierce?«, fragte Onkel Hughes.
»Ein Verehrer von Daisy«, erklärte Tante Nick mit ihrem typischen breiten, gekünstelten Lächeln.
»Er ist kein Verehrer«, widersprach Daisy, aber ich erkannte, dass sie nicht ganz ehrlich war. Bei Daisy erkannte ich das immer, weil es ihr nicht gut zu Gesicht stand.
»Jedenfalls steuert er auf uns zu«, sagte Onkel Hughes und lächelte auch, aber nicht so wie Tante Nick, sondern so, als hätten ihn Daisys Worte
Weitere Kostenlose Bücher